Keule und Kettenreaktion

Mitte März rief der Bundesrat den teilweisen Lockdown aus. Er tat das, was alle Länder ringsum auch taten: alle Geschäfte und Läden zumachen, die nicht dringlich zum Leben sind. Es ging um den Schutz des Gesundheitssystems, man wollte keine italienischen Zustände mit bauchliegenden Patienten an Beatmungsgeräten, so kurz vor dem Exitus. Tag für Tag zeigten die Medien Statistiken mit Infizierten und Toten, die alarmierend in die Höhe schossen. Am 14. April meldete die Tagesschau 25 957 infizierte Fälle, 1175 davon sind verstorben. Jeder einzelne Fall eine tragische Geschichte. Aus einer anderen Sicht betrachtet, haben 24 782 Menschen das Virus überlebt, viele davon wohl mit milden Symptomen. Noch viel mehr wurden nicht erfasst, weil sie das Virus in sich gar nicht bemerkt haben. In der Schweiz haben gerade ungefähr 8,5 Millionen Menschen höllische Angst vor dem Coronavirus – hervorgerufen von erschreckenden Bildern und kumulierten Zahlen, die zu einer Fehlinterpretation führen. Bedrohlich ist ja nicht, wie viele Leute sich insgesamt seit Messbeginn infiziert haben, sondern wie viele gerade jetzt und heute infiziert sind. Jene, die sich vor vierzehn Tagen angesteckt haben und nie im Spital waren, können wahrscheinlich heute als gesund und immun eingestuft werden.

Mit dem Lockdown hat sich der Bundesrat für die Gesundheit der Bevölkerung und gegen die Wirtschaft entschieden. Sven Behrisch hat im Magazin Nr. 14 vom 4. April vergleichend von 400 000 Toten im Syrienkrieg berichtet, von 650 000 Menschen, die an normaler Grippe in Europa jährlich zu Tode kommen, und von 400 000 Menschen, die an den Folgen von Luftverschmutzung sterben. Weltweit würden drei Millionen jährlich an den Folgen von Alkoholkonsum und acht Millionen an den Folgen des Rauchens sterben. Weshalb nun ausgerechnet das Coronavirus mit seinen in der Relation kleinen Fallzahlen weltweit einen solchen Effort an Zwangsmassnahmen auslöst, bleibt schleierhaft. Ist die Gesundheit der Alten mehr wert als die von Alkoholikern, Astmatikerinnen, Allergikern, Fettleibigen oder Strassenverkehrsteilnehmerinnen? Weshalb reagieren die Regierungen aufgrund des Coronavirus derart drastisch, während die katastrophalen Schäden, die durch die Klimaerwärmung, die Pestizide, den Verlust an Biodiversität, die Luftverschmutzung, den Verkehr, all die sinnlosen Kriege hervorgerufen werden, einfach so hingenommen werden? Schon irgendwie krass.

Die Wirtschaftskeule wird sich auf alle, nicht auf wenige, auswirken. Das durch die Medien geschürte Angstklima ist keine Grundlage, um neue Jobs zu schaffen, zu investieren und möglichst rasch wieder «hochzufahren», wie dies Politiker aller Couleur fordern. Auch die Publishing- und Medienbranche wird darunter leiden: Im Marketing wird jeweils zuerst gespart. All die Selbstständig­erwerbenden bangen um ihre Zukunft: Publisher, Fotografen, Texterinnen, Korrektoren, Lektorinnen, Übersetzerinnen, Verleger, Bildverarbeitende, Redaktoren, Anzeigenverkäufer und andere mehr. Es ist eine unkontrollierbare Kettenreaktion mit nicht absehbaren Folgen für den Binnenkonsum, den Export, die Existenz überhaupt.

Die wirtschaftliche Bedrohung ist für uns alle real – dagegen ist die Chance, vom Coronavirus angesteckt zu werden und daran zu sterben, äusserst gering. Welche Prämissen die Politik dann anlegen wird, wenn es darum geht, wer wirtschaftlich stirbt und wer überlebt, steht in den Sternen. Mit einer Kreditverschuldung für KMU ist das Problem keineswegs behoben. Vielleicht ist es an der Zeit, über das bedingungslose Grund­einkommen und neue Steuer-/Lenkungssysteme nachzudenken.

  • Autor Ralf Turtschi
    Ralf Turtschi ist Inhaber der R. Turtschi AG. Der Autor ist als Journalist und Fotoreporter für die Gewerbezeitung, unteres linkes Zürichseeufer und Sihltal, unterwegs. Er ist als Dozent beim zB. Zentrum Bildung, Baden,
    tätig, wo er im Diplomlehrgang Fotografie der Masterclass Fotografie und an der Höheren Fachschule für Fotografie unterrichtet.
  • Rubrik Kolumne
  • Dossier: Publisher 2-2020

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