Ursache und Nebenwirkungen – es ist noch nicht vorbei
Die Coronakrise erhält mit den neuen Virusmutanten eine neue, bedrohlichere Dynamik. Die Krise ist eine Krise, die wir nur solidarisch meistern können, das hat mit Eigenverantwortung nichts zu tun. Die Herdenimmunität wird nur dann erreicht, wenn alle sich beteiligen, mit Hygienemassnahmen, Abstandhalten, Kontaktvermeidung, Testen und Impfen.
Ich hatte Ende Dezember Gelegenheit, mit einer Pflegefachfrau HF in einem Alters- und Pflegezentrum zu sprechen, die Wert auf Anonymität legt. Sie erzählt von der Wucht der Pandemie, in der wir alle stecken. Ein Hilferuf an die Bevölkerung.
«Wie jedes Alters- und Pflegezentrum hatten wir während der ersten und der zweiten Welle eine sehr schwere und traurige Zeit. Trotz ausgefeiltem Schutzkonzept gelang es nicht, das Virus draussen zu halten – es ist halt nicht möglich, alle bis hin zum Küchenpersonal komplett zu isolieren – ein totales Besuchsverbot ist für die Alten hier schwer erträglich. Wir wissen schlicht nicht, woher die Viren kamen, deshalb sind auch Schuldzuweisungen nicht angebracht. Die Infektionen reduzierten einerseits das Personal, erhöhten anderseits die Pflegeintensität für die Bewohnerinnen und Bewohner.
Für die Erkrankten haben wir eine Isolierstation eingerichtet, die wir nur mit entsprechender Schutzbekleidung, einer engen Maske, Handschuhen und Schutzbrille betreten. Beim Wechsel von der einen in die andere Zone bedeutet dies Umziehen. Oft bleiben die Pflegenden während der ganzen Schicht ebenfalls in der Isolation, in Schutzkleidung – eine Riesenbelastung. So halten wir uns dann in drei, vier kleinen Räumen während einer 8 bis 11-Stunden-Schicht auf. In der Kleidung schwitzt man und die Maske erschwert das Atmen. 30-mal täglich Händewaschen und Desinfizieren – weiss jemand da draussen, was das heisst?
Den Bewohnerinnen und Bewohnern fällt es in ihrem hohen Alter nicht leicht, die Ruhe zu bewahren. Sie leiden unter Einsamkeit, sie wollen nicht mehr aufstehen, mögen nichts mehr essen, sind niedergeschlagen. Oft ist zu hören, das Leben sei so nicht mehr lebenswert. Demenzerkrankte verstehen nicht, was da plötzlich abgeht, sie sind am Verzweifeln. Wenn jemand stirbt, tut uns das weh, denn wir alle sind Menschen, die eine enge Beziehung zu den Pflegebedürftigen haben. Doch für Abschied, Trauer und Begleitung der Angehörigen blieb oft keine Zeit.
Wir hasteten, um die allgegenwärtige Not zu lindern, nur noch hin und her. Wenn die Verwandten von zwanzig Erkrankten jeden Tag anrufen und skypen möchten, können wir einfach nicht alle Handys bedienen und noch dafür sorgen, dass die Akkus voll sind! Doch wie oft begegneten wir Unverständnis oder mussten uns gar Beschimpfungen anhören. Das war schon sehr belastend.
Es kam vor, dass wir unseren sonst erfüllenden Beruf nur noch als Schicht, Essen, Schicht, Essen wahrnahmen. Diese Anstrengungen sind ermüdend, wir sind körperlich und geistig alle am Anschlag. Und immer diese Hilflosigkeit, dem Virus hinterherzulaufen! Wer das Virus verharmlost, Schutzmassnahmen auf die leichte Schulter nimmt oder zu den Impfskeptikern gehört, ist wohl einfach im Unwissen, was hier abläuft. Sobald aber Corona innerhalb des eigenen Umfeldes zuschlägt – und es kann wirklich jeden treffen –, ändert sich die Einstellung.
Wertschätzung durch Klatschen genügt nicht, die Politik muss die Vereinbarkeit von Schichtbetrieb und Familie besser organisieren. Der Stellenwert der Alters- und Pflegezentren soll jenem der Spitäler angeglichen werden, und die Ausbildung von genügend Fachpersonal für die gesundheitliche Grundversorgung muss neu justiert werden.»
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Autor
Ralf Turtschi
Ralf Turtschi ist Inhaber der R. Turtschi AG. Der Autor ist als Journalist und Fotoreporter für die Gewerbezeitung, unteres linkes Zürichseeufer und Sihltal, unterwegs. Er ist als Dozent beim zB. Zentrum Bildung, Baden,
tätig, wo er im Diplomlehrgang Fotografie der Masterclass Fotografie und an der Höheren Fachschule für Fotografie unterrichtet. - Rubrik Kolumne
- Dossier: Publisher 1-2021
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