Nur keine Bindungsängste!

«Für mich muss ein Buch heute zugleich ein Objekt sein», so formulierte es der Berliner Gestalter Jianping He einmal in einem Interview, das ich vor Jahren mit ihm führte. In der Tat: Inhalte, gleich welcher Art, werden inzwischen ja ebenso gut digital zur Verfügung gestellt und so mancher liegt lieber mit einem E-Reader auf der Couch als seine Handgelenke mit 800 Seiten «Schuld und Sühne» zu strapazieren. Da mag es auf den ersten Blick widersprüchlich klingen, dass man sie trotzdem gar nicht genug wertschätzen kann – die Buchkunst und ganz im Speziellen, die Buchbindekunst.

Für «Chronicle» kam bei Bubu ein einseitiger Flügelband mit Fadenheftung und Registerstanzung zum Einsatz.
Design: BOB Design Ltd.

Es ist immer spannend, einen Blick in die Historie zu werfen, wenn man sich der so rasant entwickelnden Technik in allen Lebensbereichen annähert. Das ist hinsichtlich der Buchkunst nicht anders als bei der Geschichte vom «Fahrzeug mit Gasmotorenbetrieb», wie Carl Benz sein erstes Auto nannte, hin zum selbstfahrenden Tesla.

Ich nehme Sie also zunächst mit in mittelalterliche Klöster – wurden hier doch im deutschsprachigen Raum die ersten Bücher geschrieben, kunstvoll illustriert und selbstverständlich auch gebunden. Geld war da freilich nicht zu verdienen, doch Gottes Lohn war den fleissigen Mönchen sicherlich gewiss. Von den geistlichen Institutionen abgesehen entwickelte sich auch in den Universitätsstädten ein bürgerliches Buchbindertum und manch Handwerker auf diesem Gebiet reiste umher, um wertvolle Bücher für betuchte Bürger zu restaurieren. Mit dem Zunftwesen ordnete sich der Berufszweig, es entstanden Bräuche und Traditionen, die Ausbildung wurde organisierter und durch diese Form der Reglementierung verteilten sich die – immer noch überschaubaren – Aufträge halbwegs einträglich. Bekanntermassen setzte die Französische Revolution die Idee der freien Berufsausübung in die Welt und so wie Konkurrenz das Geschäft belebt, ruinierte diese zugleich auch nicht wenige – zuvor in der Zunft geschützte – Buchbinder.

Die einsetzende Industrialisierung brachte schliesslich den Verlegereinband ins Spiel und die ersten Grossbuchbindereien entstanden. Kurz gesagt: Aus dem einstigen Kunsthandwerk wurde mehr und mehr eine (Massen-)Dienstleistung, die aufgrund der wachsenden Nachfrage nach Unterhaltungsliteratur natürlich auch ihre Berechtigung hatte. «Heute präsentiert sich das Buchbindehandwerk aber immer noch aktuell – angesiedelt zwischen Restaurierung, serieller Produktion und manuell gefertigtem Kunsthandwerk als Unikat oder limitierte Exklusivauflage», so kann man es auf der Website der Vereinigten Innungsgeschäftsstelle Hamburg nachlesen.

Eine handgefertigte Knotenfadenheftung mit Gummirundband sorgt bei dieser Broschur das gewisse Extra. Fertigung: bei Bubu. Design: BOB Design Ltd.

Handwerk versus Industrie
Genau diesen Spagat zwischen industrieller Fertigung und limitierten Einzelstücken wollte ich mir näher ansehen, denn es gibt ja immer zwei Möglichkeiten mit dem vermeintlichen Verlust von Bedeutungshoheit umzugehen: Entweder man betrauert das vermeintlich Verlorengegangene oder aber man besinnt sich auf die Stärken, das Einmalige, das Wertgeschätzte und führt eben diese Elemente fort. Es ist der Wandel, der jede Zeit für sich spannend macht, neue Facetten und auch Vorteile mit sich bringt: Durch die Rationalisierung in der Buchbinderei kann sich schliesslich heute nahezu jeder Bücher leisten, was einst nur der Elite vorbehalten war. Und zugleich besteht nach wie vor die Möglichkeit, ein für uns wertvolles Album in die Hände eines versierten Buchbinders oder einer erfahrenen Buchbinderin zu legen, um es als wertiges Einzelstück für die Ewigkeit zu erhalten.

Ein Buch zu einem begehrten Objekt zu formen, das von allen Seiten betrachtet werden möchte, den Inhalt nach aussen transportiert und manifestiert, ist so oder so eine Kunst für sich. Die jährlichen Einreichungen zu den Wettbewerben der Stiftung Buchkunst belegen das eindrucksvoll – die höchste Auszeichnung der Schönsten Bücher aus aller Welt, die Goldene Letter, ging in diesem Jahr übrigens in die Schweiz («Almanach Ecart. Une archive collective, 1969-2019», Elisabeth Jobin, Yann Chateigné).

Kalender mit Risografie-Einband und Prägung von Nadine Werner.

Aus Liebe zu Material und Materialität
Nadine Werner, die im niedersächsischen Wendland ihre Werkstatt betreibt, kennt und lebt beide Seiten der Buchbinderei: Für eine Serie exklusiver Notizbücher, Kalender und Papieretuis des kanadischen Herstellers Hartley & Marks, «paper-oh», tüftelte die Kreative über Jahre hinweg an spannenden Schliessmechanismen und ungewöhnlichen Bindeformen. Und obwohl auch diese natürlich im letzten Schritt industriell gefertigt werden mussten, durfte sie diese «Schere im Kopf» beiseite legen – man gewährte ihr vollkommene Freiheit und war offen für neue Ansätze.

Ein Glücksfall, der die Aufträge der Buchbinderin aufs Schönste ergänzte und ein Stück weit für wirtschaftliche Sicherheit sorgte. «Die Funktionalität stand hier immer an erster Stelle, die Notizbücher mussten ein gutes Aufschlagverhalten haben und sollten auch die Qualität der Papiere adäquat präsentieren», erzählt Nadine Werner, die vor allem klebstofffreie Bindungen reizvoll findet. «Viel zu selten lassen sich Bücher gut aufschlagen und bleiben plan liegen – so kam ich auf eine Bindung, bei der Carbonstäbe eingesetzt werden. Eine unglaublich flexible Art, für die anders als bei Klebstoffbindungen keine Maschinen, sondern oft nur Cutter, Lineal und Falzbein notwendig sind.»

Wenn Material und Technik harmonisch zusammenwirken und das Buch von seiner eigentlichen Funktion losgelöst wird, kommt die Kreative ins Schwärmen. «Künstlerisch und zugleich handwerklich tätig zu sein, macht diesen Beruf so reizvoll. Ich glaube auch nicht, dass diese Profession vollkommen aussterben wird. Im Moment steigt das Bewusstsein für Qualität ja wieder und auch für das Erlebnis, etwas Physisches in den Händen zu halten.»

Die Beratungsphase, das Erarbeiten eines Konzepts sowie das anschliessende Experimentieren nimmt bei Nadine Werner die meiste Zeit in Anspruch; sei es für ein Hochzeitsalbum oder aber eine exklusive Verpackung. Die klassischen Restaurierungsaufträge stehen für Nadine Werner inzwischen weniger im Fokus. «Ich probiere viel lieber neue Techniken aus oder widme mich meinen Papierkunstwerken.» Bedauernswert findet sie es allerdings, dass Praktikumsanfragen immer seltener werden und die Ausbildungssituation ganz generell schwierig ist. «Dabei macht es unglaublich viel Spass, Qualität und damit auch lange Haltbarkeit zu schaffen.»

Notizbuch mit Steckalbumtechnik von Nadine Werner.

Neue Ideen für grosse Auflagen
Auch in Mönchaltdorf tüftelt man gerne an innovativen Lösungen im Buchbereich – hier hat das Unternehmen Bubu seinen Sitz, das sich über die Schweizer Landesgrenzen hinaus mit seiner achtzigjährigen Firmengeschichte einen Namen machte. Das ursprüngliche Handwerk spielt bei Bubu ebenfalls noch eine Rolle, in erster Linie sind es aber industriell gefertigte und dennoch kreative Lösungen für grössere Buchauflagen: «Derzeit stellen wir vor allem ein zunehmendes Interesse an Flatbooks fest, da sich diese für eine grosszügige Bildgestaltung besonders gut eignen. Aber auch Gestaltungsvarianten wie offene Fadenheftungen oder glatt beschnittene Bücher sind gerade in und werden von kreativen Buchgestaltern oft verwendet», erzählt mir Verena Fischer, Marketing Bubu. Natürlich spürt man den Trend hin zu kleineren Auflagen; noch lässt sich diese Entwicklung aber durch die steigende Nachfrage nach hochwertigeren Lösungen wettmachen.

Um diesbezüglich nicht nur als Dienstleister zu fungieren, sondern Inspirationen für ungewöhnliche Umsetzungen zu liefern, finden sich sowohl auf der Bubu-Website als auch für Besucher vor Ort im «Bindorama» zahlreiche Anregungen … auch zu Bindearten, die ein wenig in Vergessenheit geraten, aber wert sind, wieder entdeckt zu werden: «Die Steppstichheftung oder die Knotenfadenheftung sind beispielsweise oft nicht bekannt, obschon sie sehr schöne Bindearten sind. So kann ein einfaches Produkt, wie ein Heft, günstig aufgewertet werden! Ansonsten sind es eher die oben erwähnten ‹halbfertigen› Bindearten mit offenen Buchrücken, die einem Buch ein ganz spezielles Flair verleihen», begeistert sich Verena Fischer.

Nadine Werner in ihrem Atelier, in dem auch das Zwillingsbuch mit Gummibandverschluss sowie das Steckalbum mit Chiyogamipapier (unten) entstanden. Portrait: Christian Schmid
Zwillingsbuch mit Gummibandverschluss
Steckalbum mit Chiyogamipapier

Ganz neue Ideen präsentieren wiederum die fast schon legendären Bubu-Neujahrsbücher, die seit bald 40 Jahren grossen Anklang bei Kunden und Freunden des Hauses finden. «Konzipiert werden sie jeweils bereits zu Jahresbeginn, wenn wir verschiedene gesammelte Ideen zusammentragen und bewerten», so Verena Fischer. Spiritus Rector des Neujahrsbuchs ist Hans Burkhardt, der mit seinem Auge, seinem Know-How und seiner Kreativität immer wieder neue Vorschläge ausarbeitet. So konnten die glücklichen Empfänger in diesem Jahr «Flexibelle» in Augenschein nehmen: Eine feine, fast unsichtbare Laserstanzung verwandelt das Hardcovermaterial in einen extrem flexiblen Umschlag. Auch eine alte Kunst vermag also immer noch zu überraschen, wenn der Handwerker nur sein Metier versteht! 

nadinewerner.com
bubu.ch

  • Autor Bettina Schulz
    Bettina Schulz ist freiberufliche Texterin und Journalistin in München. 18 Jahre lang leitete sie als Chefredakteurin das internationale Fachmagazin novum World of Graphic Design und initiierte in dieser Zeit auch die alle zwei Jahre stattfindende Creative Paper Conference in München. Zudem ist sie Jurymitglied verschiedener (internationaler) Designwettbewerbe wie beispielsweise dem Red Dot Communication Design, dem Design Preis München oder dem IIIDaward und hielt bereits zahlreiche Vorträge. Zu ihren Kunden zählen Verlage, Agenturen und Kreative sowie Unternehmen aus der Wirtschaft. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Bereichen Papier, Druck und Veredelung. www.bettina-schulz.de.
  • Rubrik Design & Praxis
  • Dossier: Publisher 1-2021
  • Thema Buchbinden

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