Glaube versetzt Berge

Die Medaille der Erkenntnis hat zwei Seiten: auf der einen steht das Wissen, auf der anderen der Glaube. Auf den Kanten flattern filigran das Halbwissen, das Scheinbare, das Angenommene, das Vorausgesetzte und Das-haben-wir-schon-immer-so-gemacht. Das gängige Bild der zweiseitigen Medaille entspricht kaum mehr dem komplizierten Leben von heute. Die Schnelllebigkeit, das Dauer-präsent-Sein, die Unsicherheit darüber, was passieren wird, Erwartungsdruck, die Parallelwelt des Internets – das alles zieht uns den Boden unter den Füssen weg. Der Wind zwirbelt uns wie ein fallendes Blatt wieder und wieder in die Höhe.

Es wundert mich deshalb nicht, wenn viele von uns verunsichert sind und nach eindeutigen Antworten suchen. Die Wissenschaft, also das belastbare Wissen, bildet die Grundlage für die meisten Erklärungen und das Verstehen, wie etwas funktioniert. Sonnenlicht wird mit einem Prisma in Farben zerlegt, die man als Wellenlänge beschreibt. Physikalische Gesetze sind nicht verhandelbar. Newtons Apfel fiel vom Baum zu Boden – niemand könnte glaubwürdig behaupten, Gravitation sei erfunden, der Apfel würde schwerelos ins All entschwinden. Die Wissenschaft ist grenzenlos. Sie ist überall dort, wo wir Wissen neugierig erweitern möchten, um etwas zu verstehen. Wenn unabhängige Wissenschaftler und Forscher immer wieder zum gleichen Schluss kommen, setzt sich das Wissen als Standard durch – bis es durch besseres und neues Wissen ersetzt wird. Wissenschaft ist lebendig, keineswegs endgültig.

Das Nicht-Wissen gehört zum Wissen wie der Tod zum Leben. Es ist völlig natürlich, dass wir von ganz Vielem nichts wissen. Wir können das Gelernte auch wieder vergessen (zum Beispiel Heilplanzen suchen). Auch der gescheiteste Super-Einstein ist im Grunde genommen dumm. Aristoteles bringt es auf den Punkt: «Je mehr ich weiss, desto mehr weiss ich, dass ich nichts weiss.» Verunsicherte beginnen oft einen Satz mit: «Ich glaube, dass …»

Wo Menschen Halt suchen und verunsichert sind, klammern sie sich an den Glauben. Er vermittelt das warme Nestgefühl der Online-Zusammengehörigkeit, tröstet und spendet Zuversicht. Die böse Mutantin des Glaubens ist der Fanatismus. Glaube ging schon immer mit Machtansprüchen einher. Religiöser Eifer, gepaart mit Fanatismus, waren und sind der Boden für viele Verbrechen und gesellschaftliche Katastrophen, leider auch heute noch. Gesellschaftspolitisch kommt Glaube mit allgemeinen Heilsversprechen und Slogans daher, die über das Niveau von Astrologie nicht hinauskommen: Make America great again! Erstaunlich, welche Follower-Kraft Glaube entfalten kann. Glaube ist der Treiber für Demagogen und Machtpolitiker aller Couleur, Glaube ist der Treiber für die Autokratie – aber auch für die Befreiung.

Glaube – Irrglaube – Fanatismus – Radikalisierung – Gewalt: Die Spirale ist bekannt. Wissen oder Nichtwissen ist der Nährboden für die Entwicklung unserer Gesellschaft. Gesellschaften, die ohne Disput und Konsens auskommen, sind verdammt zu scheitern. Mir persönlich scheint es wichtig, zu erkennen, was (Fach-)Wissen ist und was dafür gehalten wird. Auch, das eigene Know-how richtig einzustufen und Lücken offen einzugestehen. Gesellschaftliches Leben oder auch Vorgänge in der Natur auf Glaube und Nichtwissen zu basieren, hat sich für alle Player als Desaster erwiesen. Belastbares Wissen hingegen zu leugnen und mit unhaltbaren Theorien zu untergraben, ist brandgefährlich. Gesichertes Wissen, eine gesunde Skepsis und vorsichtiger Optimismus bringen uns weiter als geglaubte und laute Fundamentalpositionen.

  • Autor Ralf Turtschi
    Ralf Turtschi ist Inhaber der R. Turtschi AG. Der Autor ist als Journalist und Fotoreporter für die Gewerbezeitung, unteres linkes Zürichseeufer und Sihltal, unterwegs. Er ist als Dozent beim zB. Zentrum Bildung, Baden,
    tätig, wo er im Diplomlehrgang Fotografie der Masterclass Fotografie und an der Höheren Fachschule für Fotografie unterrichtet.
  • Rubrik Kolumne
  • Dossier: Publisher 6-2022
  • Thema Ultimo

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