Räumliche Irritationen
Dass Fotografie die Realität abzeichnet, ist ein weit verbreiteter Irrglaube. Sie besitzt Fähigkeiten, die weit über denen des menschlichen Sehvermögens liegen, hat aber auch Mankos. Ein Grund, sich spielerisch von der Realitätsnähe zu entfernen.
Einmal frei sein. Einmal aus Konventionen ausbrechen. Einmal andere Dinge ausprobieren. Den dreidimensionalen Raum auf dem Papier oder dem Screen zu erkennen, erfordert eine gehörige Sinnensleistung. Die Erfahrung lehrt uns, dass Grosses auf dem Foto eher vorn ist, Kleines hinten steht. Oben auf dem Foto ist in der Szene weiter hinten.
Wenn ein Motiv etwas anderes verdeckt, wissen wir zweifelsfrei, dass das Motiv vor jenem steht. Wir können ohne Anstrengung oben, unten, vorn und hinten auf einem Foto erkennen. Mit ein paar Tricks gelingt es, der Sinneswahrnehmung ein Schnippchen zu schlagen und räumliche Irritationen hervorzuzaubern. Seit es die bildende Kunst gibt, versuchen Architekten, Maler, Bildhauer, Grafiker oder heute auch Fotografen, die Betrachter lustvoll aufs Glatteis zu führen.
Unsere Sinnenswahrnehmung macht uns glauben, wo oben, unten links und rechts ist. Weiter sind wir es gewohnt, dass Licht von oben kommt. Die Sonne, der Mond oder künstliche Lichtquellen scheinen meist von oben. Der Schatten fällt daher nach unten.
Beim Logodesign werden die räumlichen Verhältnisse immer wieder angewendet, so in der Darstellung oben beim roten Stuhl, der dem Bildzeichen des Einrichtungshauses Möbel Gallati nachempfunden ist. Eine Kippfigur, die je nach Betrachtungsweise von oben oder unten gesehen werden kann. Zur Verdeutlichung habe ich die Sitzfläche dunkler gestaltet und ein Tischbein in den Vordergrund gestellt. In der visuellen Logik allerdings passen die geraden Stuhlbeine unten nicht ganz zur perspektivischen Darstellung.
Es gibt viele Unternehmen und Marken, die sich Buchstabenformen zu eigen machen und damit Dreidimensionalität vorgaukeln. Die Baufirma Erni mit den vier markanten schwarzen Wandteilen vor gelbem Grund ist ein schönes Beispiel dafür.
Der Buchstabe E eignet sich wegen seiner geraden Konstruktion besonders für geometrische Darstellungen. In der dreidimensionalen Parallelperspektive wird das E ebenfalls zur Kippfigur, man kann es so oder so sehen. In der Darstellung oben verdeutlichen die Schattenwürfe die Lage des Buchstabens. Der schnell erkannte Buchstabe zeigt einen Schattenwurf nach unten rechts. Sein Pendant mit Schatten nach oben links wird weniger schnell als E erkannt. Wir haben also eine fixe Vorstellung von der Welt, und wenn ein Sehreiz nicht damit übereinstimmt, sind wir irritiert.
In der Fotografie produziere ich solche Irritationen mit Lust und Schadenfreude. Nichts ist mir lieber, als wenn ich die Betrachter zwinge, zweimal hinzusehen, um der Lage Herr zu werden (wenn ich dies so mit einer Gendersprachblüte ausdrücken darf). Besonders irritierend sind Bilder, bei denen keine Figur als Referenzpunkt mehr sichtbar ist. Was es dazu so braucht?
- Motiv
Manche fotografische Situationen sind prädestiniert für Raumirritationen, da nenn’ ich einmal die Architektur. Treppen, Fassaden, Mauern, Strassen, Innenräume, die lassen sich bestens instrumentalisieren.
- Lage
Drehe Architekturbilder von Treppen einmal im rechten Winkel oder auf den Kopf. Du wirst sofort einer räumlichen Irritation erliegen.
- Ausschnitt
Schneide das Motiv stark zu, sodass es sich ganz auflöst oder Teile daraus im Vordergrund stehen.
- Spiegelungen
Halte die Kamera seitlich an eine Fensterfront und betrachte im Display die Spiegelung. Fotografiere durch ein Schaufenster hindurch, du wirst die Aussen- und Innenwelt sichtbar machen.
- Photoshop
Maskiere oder ändere das Bild für deine Zwecke. Setze Weichzeichnungs- oder Unschärfefilter ein und beurteile den Effekt.
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Autor
Ralf Turtschi
Ralf Turtschi ist Inhaber der R. Turtschi AG. Der Autor ist als Journalist und Fotoreporter für die Gewerbezeitung, unteres linkes Zürichseeufer und Sihltal, unterwegs. Er ist als Dozent beim zB. Zentrum Bildung, Baden,
tätig, wo er im Diplomlehrgang Fotografie der Masterclass Fotografie und an der Höheren Fachschule für Fotografie unterrichtet. - Rubrik Imaging
- Dossier: Publisher 6-2022
- Thema Fotografie
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