Räumliche Irritationen

Dass Fotografie die Realität abzeichnet, ist ein weit verbreiteter Irrglaube. Sie besitzt Fähigkeiten, die weit über denen des menschlichen Sehvermögens liegen, hat aber auch Mankos. Ein Grund, sich spielerisch von der Realitätsnähe zu ­entfernen.

Der Bahnhofplatz, St. Gallen mit dem Rathaus. Die Nässe im Abendlicht betone ich mit zwei Masken oben und unten, die ich mit dem ­Photoshopfilter Bewegungsunschärfe belege.

Einmal frei sein. Einmal aus Konventionen ausbrechen. Einmal andere Dinge ausprobieren. Den dreidimensionalen Raum auf dem Papier oder dem Screen zu erkennen, erfordert eine gehörige Sinnensleistung. Die Erfahrung lehrt uns, dass Grosses auf dem Foto eher vorn ist, Kleines hinten steht. Oben auf dem Foto ist in der Szene weiter hinten.

Wenn ein Motiv etwas anderes verdeckt, wissen wir zweifelsfrei, dass das Motiv vor jenem steht. Wir können ohne Anstrengung oben, unten, vorn und hinten auf einem Foto erkennen. Mit ein paar Tricks gelingt es, der Sinneswahrnehmung ein Schnippchen zu schlagen und räumliche Irritationen hervorzuzaubern. Seit es die bildende Kunst gibt, versuchen Architekten, Maler, Bildhauer, Grafiker oder heute auch Fotografen, die Betrachter lustvoll aufs Glatteis zu führen.

Treppen und Geländer von unten nach oben fotografiert. Das Bild ist um 90 Grad gedreht. Um das Bild zu dekodieren, dienen die Ziffer 2 und ein Fotorahmen im Bild.
Hotel Room Mate Bruno, Rotterdam. Eine ehemalige Lagerhalle, die als offenes Atrium dient. Das Foto ist um 90 Grad gedreht zu betrachten.

Unsere Sinnenswahrnehmung macht uns glauben, wo oben, unten links und rechts ist. Weiter sind wir es gewohnt, dass Licht von oben kommt. Die Sonne, der Mond oder künstliche Lichtquellen scheinen meist von oben. Der Schatten fällt daher nach unten.

Ein roter Stuhl als Bildzeichen von Möbel Gallati. Rechts ist die Kippfigur angedeutet: Der Stuhl kann von unten oder oben gesehen werden.

Beim Logodesign werden die räumlichen Verhältnisse immer wieder angewendet, so in der Darstellung oben beim roten Stuhl, der dem Bildzeichen des Einrichtungshauses Möbel Gallati nachempfunden ist. Eine Kippfigur, die je nach Betrachtungsweise von oben oder unten gesehen werden kann. Zur Verdeutlichung habe ich die Sitzfläche dunkler gestaltet und ein Tischbein in den Vordergrund gestellt. In der visuellen Logik allerdings passen die geraden Stuhlbeine unten nicht ganz zur perspektivischen Darstellung.

Ein Raum, der mit Tupfen und Linien bemalt ist, löst seine Dimensionen auf. Der Fotograf hinten balanciert im Handstand, wie die Kamera vorne rechts beweist.
Zürich, Mythenquai. Die gläsernen gerundeten Fassadenteile ­spiegeln die umliegende Baustelle.

Es gibt viele Unternehmen und Marken, die sich Buchstabenformen zu eigen machen und damit Dreidimensionalität vorgaukeln. Die Baufirma Erni mit den vier markanten schwarzen Wandteilen vor gelbem Grund ist ein schönes Beispiel dafür.

Nachgestelltes Logo der Erni AG, Bauunternehmung. Das Auge kippt zwischen Buchstabe E und den dargestellten Körpern.
Oben: Beim Schattenwurf gegen rechts unten ist das E schneller erkennbar. Wir sind es gewohnt, dass Licht von oben kommt.

Unten: Buchstabe E als dreidimensionales Gittermodell dargestellt. Man kann es auf zwei Arten «lesen».

Der Buchstabe E eignet sich wegen seiner geraden Konstruktion besonders für geometrische Darstellungen. In der dreidimensionalen Parallelperspektive wird das E ebenfalls zur Kippfigur, man kann es so oder so sehen. In der Darstellung oben verdeutlichen die Schattenwürfe die Lage des Buchstabens. Der schnell erkannte Buchstabe zeigt einen Schattenwurf nach unten rechts. Sein Pendant mit Schatten nach oben links wird weniger schnell als E erkannt. Wir haben also eine fixe Vorstellung von der Welt, und wenn ein Sehreiz nicht damit übereinstimmt, sind wir irritiert.

Markthalle Rotterdam. Die bemalten Fliesen im Innengewölbe üben eine magische Wirkung auf die Besucher aus.
Omega-Museum Biel. Durchs Fenster fotografiert. Hinten sieht man durch das Gebäude auf die Strasse – ein anderer Fotograf steht hinter dem Schattenmann.

In der Fotografie produziere ich solche Irritationen mit Lust und Schadenfreude. Nichts ist mir lieber, als wenn ich die Betrachter zwinge, zweimal hinzusehen, um der Lage Herr zu werden (wenn ich dies so mit einer Gendersprachblüte ausdrücken darf). Besonders irritierend sind Bilder, bei denen keine Figur als Referenzpunkt mehr sichtbar ist. Was es dazu so braucht?

  • Motiv
    Manche fotografische Situationen sind prädestiniert für Raumirritationen, da nenn’ ich einmal die Architektur. Treppen, Fassaden, Mauern, Strassen, Innenräume, die lassen sich bestens instrumentalisieren.
  • Lage
    Drehe Architekturbilder von Treppen einmal im rechten Winkel oder auf den Kopf. Du wirst sofort einer räumlichen Irritation erliegen.
  • Ausschnitt
    Schneide das Motiv stark zu, sodass es sich ganz auflöst oder Teile daraus im Vordergrund stehen.
  • Spiegelungen
    Halte die Kamera seitlich an eine Fensterfront und betrachte im Display die Spiegelung. Fotografiere durch ein Schaufenster hindurch, du wirst die Aussen- und Innenwelt sichtbar machen.
  • Photoshop
    Maskiere oder ändere das Bild für deine Zwecke. Setze Weichzeichnungs- oder Unschärfefilter ein und beurteile den Effekt.
Palazzo Lombardia, Mailand. Nur der Innenteil ist real, seitlich siehst du die Spiegelung in den gläsernen Fassaden.
Restauranttheke in der Biennale Venedig. Die eckigen und gekippten Spiegelfragmente an der Rückwand sind für Besucher faszinierend.
  • Autor Ralf Turtschi
    Ralf Turtschi ist Inhaber der R. Turtschi AG. Der Autor ist als Journalist und Fotoreporter für die Gewerbezeitung, unteres linkes Zürichseeufer und Sihltal, unterwegs. Er ist als Dozent beim zB. Zentrum Bildung, Baden,
    tätig, wo er im Diplomlehrgang Fotografie der Masterclass Fotografie und an der Höheren Fachschule für Fotografie unterrichtet.
  • Rubrik Imaging
  • Dossier: Publisher 6-2022
  • Thema Fotografie

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