Der Preis der Freiheit

Die Füsse im Sand, den Blick auf das Meer, den Laptop auf den Knien: So stellen sich viele das Leben als digitaler Nomade vor. Doch es gibt auch Schattenseiten im Paradies. Wir liefern Tipps für den Schritt in die Selbstständigkeit.

In einem kleinen Dorf in Brasilien skizziert Rahel Vils auf eine grosse Papierrolle ein Konzept für eine neue App, Fiona Skolem spaziert durch einen norwegischen Wald und brainstormt für ihr nächstes Projekt, Marco Zellweger sitzt in einem Coworking-Space in Gran Canaria und designt eine Website, Olivia Schneeberger ist gerade von einem Tauchgang im Roten Meer in Ägypten zurück und setzt sich mit noch nassen Haaren an den Laptop, um ein Logo fertig zu zeichnen.

Arbeiten, wann man will, wo man will und wie man will: Der Trend des Individualismus will auch in der Arbeitswelt gelebt werden. Insbesondere im IT- und im Grafikbereich ist dies dank den neuen Technologien möglich. Alles, was man braucht, ist ein Laptop, Strom und Internet – könnte man meinen. Doch hinter dem Schritt in die Welt der digitalen Nomaden versteckt sich viel mehr. Diese Erfahrung haben auch die vier Schweizer gemacht. Stromausfälle in Brasilien, teures Internet in Ägypten, Skype-Calls statt persönlicher Treffen in Spanien oder administrativer Aufwand durch das Anmelden als Einzelfirma in Norwegen sind eine Herausforderung. Auch wenn heute nicht mehr alle vier ortsunabhängig und selbstständig erwerbend sind, so sind sie sich dennoch einig: Sie möchten diese Erfahrungen nicht missen.

Zufall, Zweckmässigkeit oder Ziel

Doch wie wird man überhaupt digitaler Nomade? Bei Fiona Skolem war es Zufall. «Als ich mit meinem norwegischen Mann nach Oslo auswandern wollte, reichte ich bei der Berner Agentur, bei der ich arbeitete, die Kündigung ein – zu meiner Überraschung fragte mein Arbeitgeber, ob ich mir vorstellen könne, weiterhin zwei Tage pro Woche für sie als Freelancerin zu arbeiten», sagt die 29-jährige Bernerin. Für sie ein Glücksfall: So hatte Skolem in ihrer neuen Heimat bereits eine Arbeit.

Der grösste Vorteil des ortsunabhängigen Arbeitens liege ganz klar in der Freiheit: «Gerade in kreativen Berufen finde ich es unnatürlich, wenn man jeden Tag vom gleichen Büroplatz aus arbeiten soll.» Hingegen brauche es Flexibilität und Disziplin; Letzteres nicht etwa, um mit Arbeiten zu beginnen, sondern um damit aufzuhören: «Wenn ich zu Hause gearbeitet habe, musste ich manchmal die innere Perfektionistin überwinden und mir sagen, um 17 Uhr mache ich Feierabend und gebe ab, was ich habe, statt noch die ganze Nacht dranzusitzen.» Auch der Austausch mit Arbeitskollegen der gleichen Branche fehlte ihr. Gerade augenscheinlich belanglose Mittagspausen seien oft lehrreich, sagt Skolem, etwa, wenn man über neue Funktionen bei Photoshop oder aktuelle Trends spreche.

Grafikerin Olivia Schneeberger arbeitete zwei Jahre remote, allerdings stand bei ihr das Reisen im Vordergrund. Und ein Traum: «Ich wollte Tauchlehrerin werden.» Nach Reisen in Indonesien und auf den Philippinen liess sie sich mit ihrem Freund für ein Jahr in Ägypten nieder. Unterwegs in Südostasien, aber auch neben ihrer Vollzeitstelle als Tauchlehrerin am Roten Meer arbeitete sie immer wieder an verschiedenen Projekten, wie etwa der Kreation eines Logos für einen Start-up-Gründer, den sie unterwegs getroffen hatte, oder Menükarten für ein Restaurant, zu dessen Besitzer eine Freundschaft entstanden war. «Es war eine gute Ergänzung und ermöglichte mir, weiterhin in meinem Beruf tätig zu bleiben», so die 26-jährige Bernerin. Die finanzielle Unsicherheit sowie der Aufwand durch Bürokratie und Kundenkorrespondenz haben sie aber dazu veranlasst, nach der Rückkehr in der Schweiz wieder in einer Agentur anzuheuern. Auch Skolem arbeitet inzwischen nicht mehr selbstständig: «Es ist schwierig, genug Geld zu verdienen, wenn man in Norwegen und nicht in einem günstigen Land in Südostasien lebt.»

Alle Kosten einberechnen

So einfach es die Digitalisierung macht, ortsunabhängig zu arbeiten, so sehr hat sie auch zu einem massiven Anstieg der Konkurrenz geführt, durch die Demokratisierung des Zugangs zu den Berufen und weil durch das Internet die Auftragsakquise und -vergabe viel einfacher geworden ist. Auch Michael Moser, früher selbstständig erwerbender Grafiker und heute Zentralsekretär des Sektors Medien bei der Gewerkschaft syndicom, hat in den letzten Jahren einen Anstieg an Selbstständigen festgestellt: «Früher hatte man im Grafikbereich hohe Fixkosten, der Bleisatz und später auch die ersten Computer waren extrem teuer. Heute sind die Einstiegsbarrieren nahezu inexistent: Man braucht lediglich einen Laptop, den man entweder ohnehin schon hat oder leasen kann, und ein paar Programme, die sich zur Not sogar herunterladen lassen.»

Mit den Kosten seien aber auch die Preise gesunken: Gut davon leben könnten heute längst nicht alle. Denn die Verschiebung Richtung Selbstständigkeit komme nicht nur vom Digital-Nomad-Trend: «Früher wurde man selbstständig, weil man so gut war, dass man selbstständig erwerbend mehr verdiente als in einem Angestelltenverhältnis. Heute wird man häufig selbstständig, weil man keine Anstellung findet», sagt Moser. Es sind nicht nur die Sonne und der Strand, die im beliebten Südostasien locken, sondern auch die tiefen Lebensunterhaltskosten. Für ein Leben in der Schweiz mit AHV, Unfallversicherung, Pensionskasse oder um gar eine Familie zu ernähren, würde es für viele nicht mehr reichen. Deshalb erstaunt es auch nicht, dass dieser Lebensstil vor allem die Generation Ende 20, Anfang 30 anspricht – ohne Kind, Hund und Hypothek. «Schon nur, um sich eine solide Altersvorsorge aufzubauen, müsste man als selbstständig erwerbende Person ungefähr 10 000 Franken im Jahr in die Pensionskasse einzahlen können – das ist für die meisten absolut realitätsfern», sagt Moser.

Auf Erfolgskurs

Es gibt sie aber, die digitalen Nomaden, die sich erfolgreich durchschlagen. Rahel Vils ist seit 10 Jahren selbstständig, seit 2011 arbeitet sie regelmässig mehrere Monate pro Jahr im Ausland. Für sie war es eine überlegte Entscheidung: «Auf diese Weise versuche ich bewusst, der Routine zeitweise zu entkommen. Ich sammle neue Eindrücke und schöpfe Inspiration für mich und meine Arbeit.» Bei ihren Reisen geht es ihr nicht so sehr um die Sehenswürdigkeiten im jeweiligen Land: «Ich reise langsam und lasse viel lieber den einzelnen Ort auf mich wirken.» Das stetige Rumreisen wäre ihr zu stressig, lieber bleibe sie ein paar Wochen oder gar Monate am gleichen Ort, denn die Zeit im Ausland nutzt sie auch, um möglichst fokussiert an einem Projekt zu arbeiten. Sie sagt: «Man ist im Ausland viel weniger abgelenkt als zu Hause.» Als UX-Designerin verfolgt Vils ein Projekt jeweils von der Idee bis zum fertigen Produkt. Die 35-jährige Zürcherin empfiehlt, sich möglichst breit aufzustellen und sich nie von ein paar wenigen Kunden abhängig zu machen.

Auch Marco Zellweger, der seit vier Jahren ortsunabhängig arbeitet, hat einen breiten Kundenstamm: «Diesen erst im Ausland aufzubauen, stelle ich mir als sehr schwierig vor», sagt der 38-jährige Basler. Denn wer einen Auftrag online ausschreibt, kann heutzutage Offerten aus der ganzen Welt erhalten. Plattformen wie «99 Designs» oder ­«Fiverr» verdienen dadurch sogar Geld, indem sie Unternehmen mit Freelancern vernetzen – zu Spottpreisen. Marco Zellweger beobachtet diese Entwicklung mit Unbehagen: «Das Verständnis für visuelle Gestaltung und die Wertschätzung der Arbeit eines Grafikers leiden sehr darunter», sagt er. Auch würden solche Plattformen zu Dumpingpreisen führen und der Branche gesamthaft schaden. «Ein Logo für 150 Franken – oder noch weniger – ist einfach unrealistisch, wenn man alle Fixpreise, die Infrastruktur, Ausgaben für Versicherungen etc. miteinberechnet.» Die Konkurrenz komme dabei nicht nur aus Niedriglohnländern, sondern auch aus der Schweiz, etwa durch junge Absolventinnen und Absolventen, die neben einer Weltreise noch ein bisschen dazuverdienen möchten. Durch Pauschalhonorare statt Stundenlohn sei nicht klar ersichtlich, was genau finanziert werde. Alle Kosten decke dies nicht. «Für seriöse selbstständig Erwerbende ist dies ein Affront», so Zellweger.

Gut geplant ist die halbe Miete

Der Schritt in die Selbstständigkeit muss daher gut überlegt und geplant sein. Michael Moser von der Gewerkschaft syndicom appelliert, unbedingt von Anfang an alle Kosten einzuberechnen: «Seine Preise später zu erhöhen, ist extrem schwierig und führt nicht selten dazu, diese Kunden dann an jemand anderes zu verlieren, der selber nicht alle effektiven Kosten einberechnet. Im Grafikmarkt herrscht eine wahnsinnige Diskrepanz zwischen den Marktpreisen und den Preisen, welche die tatsächlichen Kosten decken würden.» Wichtig sei deshalb die Vernetzung, sei dies über die Gewerkschaft oder bei informellen Treffen. So könne man verhindern, dass man gegeneinander ausgespielt werde, und wisse über die Preise in der Branche Bescheid.

Dazu gehöre auch das Bewusstsein, was für einen Wert die eigene Arbeit habe: «Man muss aufhören, seine Arbeit zu verschenken», sagt Moser. Ein Logo für einen Bekannten, ein Plakat für eine Kulturveranstaltung ohne Budget, das ginge höchstens als Berufseinsteiger, und auch dann nur unter der Bedingung, dass man völlige kreative Freiheit hat und die Arbeit für sein Portfolio brauchen kann, so Moser. Hätte ein Kunde aber genaue Vorstellungen und Anpassungswünsche, dann fordere er eine konkrete Dienstleistung und müsse auch bereit sein, dafür zu bezahlen. Gerade als digitaler Nomade müsse man sich seiner Verantwortung gegenüber der ganzen Branche bewusst sein: «Schaffen es die Kreativen, diese Machtposition umzukehren, wäre das ein erster grosser Schritt in Richtung fairere Preise in der ganzen Branche», so Moser.

Tipps:

Tools: Nebst den üblichen Grafikprogrammen benützen selbstständig Erwerbende auch digitale Tools für Analysen und Skizzen, Programme wie Dropbox oder WeTransfer für den Datenaustausch, Slack für den Kundenkontakt, Skype für Besprechungen, Billomat zur Rechnungsstellung, Revolut oder Transferwise für Geldtransfers. Statt scannen kann man Skizzen auch abfotografieren und digital nachverbessern.

Versicherungen: Neben den obligatorischen Versicherungen wie AHV, Krankenkasse und Unfall sollten selbstständig Erwerbende auch eine Pensionskasse (ab Jahreslohn von über 21 330 Franken ­obligatorisch), eine 3. Säule, Krankentaggeld, Berufshaftpflicht, Rechtsschutz und allenfalls eine Versicherung der technischen Geräte in Erwägung ziehen.

Gewerkschaft: Über eine Gewerkschaft wie syndicom kann man sich vernetzen und profitiert von Merkblättern wie zur Infrastrukturentschädigung, Guidelines zur Offertenerstellung oder eine Musterrechnung mit verschiedenen Kosten, die man individuell anpassen kann. Oft ist bei einer Mitgliedschaft bei einer Gewerkschaft auch der Berufsrechtsschutz mitinbegriffen.

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