Programmatic Printing im Nach-Corona-Zeitalter

Was lange Zeit ausgebremst wurde, boomt in Corona-Zeiten: Home Office, Webinare, Videokonferenzen – wovor wir uns lange scheuten, ist heute gelebter Alltag. Und wir erleben etwas, das immer dann eintritt, wenn uns etwas zum ersten Mal gelingt: Wir empfinden ein «Gefühl der geglückten Angstüberwindung». Lässt sich dieses Gefühl auf die Transformation der Grafischen Industrie übertragen? Schaffen wir nach Corona den Anschluss an die Zukunft?

So schlimm es auch ist, so sehr wir uns um unsere Gesundheit und das Überleben unserer Betriebe sorgen, so sehr kommen wir in dieser Corona-Zeit auch ins Staunen. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen sagt es so: «Wir erleben im Augenblick auch, wie atemberaubend beweglich, wie reaktionsschnell und transformationsbereit Menschen sein können. Wann hat es das je gegeben? Neue Begrüssungsrituale werden blitzschnell ­gelernt, Arbeitsformen in Schulen, Unternehmen und Universitäten in Hochgeschwindigkeit revidiert und modernisiert, nötige Formen des Verzichts in der Breite der Gesellschaft akzeptiert. Und im Netz explodiert die künstlerische Kreativität zu einem Fest live gestreamter Gratiskonzerte, die die Musik als ein Medium der Völkerverständigung erfahrbar machen. Alle lernen im Moment dazu.» 

500 Jahre Druck, 20 Jahre Internet – wie wächst das zusammen?

Von heute auf morgen sind wir ins Home Office gewechselt, streamen Webinare, konferieren per Telko oder Video. Die Angst vor diesem Neuen haben wir schnell überwunden. Weil’s notwendig war. Weil wir keine andere Wahl hatten. Das «Gefühl der geglückten Angstüberwindung» ist im Kleinen schon mal da. 

Das war im Vor-Corona-Zeitalter noch anders. Da konnten viele ihre ureigensten Ängste vor dem Neuen, ihre Neophobien noch hegen und pflegen. Zum Beispiel die Drucker der Generation Babyboomer (geboren 1948 bis 1964). Die Boomer verteufelten vor 20 Jahren das Internet. Sie hatten einfach Angst, dass das Web den Printmedien etwas wegnimmt. Genau anders herum tickten die Jahrgänge 1980 bis 1998 der Generation Y, auch Millenials genannt, die als Digital Natives mit dem Internet gross geworden waren und dort ihre grössten Karrierechancen erkannten. Allerdings sammelte Gen Y auf ihrem Weg an die Schalthebel der Unternehmen nur wenig Erfahrung mit dem vermeintlich alten Gutenberg-Medium. Die Millenials setzten auf Zuckerberg. So entwickelte sich die Lage vor Corona: Zwei Kanäle, zwei Generationen, Null Verständnis füreinander. 

Die Zeitenwende wird nach Corona passieren: Boomer gehen in Rente, Millenials kommen ans Ruder – bei den Auftraggebern wie bei den Druckern. Es wächst zusammen, was zusammen gehört: Zwei Kanäle, eine Generation, eine Meinung. Und die lautet: Zum Programmatic Advertising im Internet gehört Programmatic Printing im Postbriefkasten.

E-Mail oder Postkarte? Digital braucht ein Opt-in. Postalisch geht immer und wirkt stärker.

Auf dem Weg zum Programmatic Printing

In den letzten zehn Jahren wurden viele Werbebudgets umgeschichtet: weg von den klassischen analogen Medien, hin zu Google, Facebook & Co. Doch Search Media und Social Media performen nicht mehr wie früher. Und Editorial Media gehen die Cookies aus. Wird Owned Media wieder wichtiger werden in der User Journey? Welche Rolle im Sales Funnel wird dabei Programmatic Printing übernehmen?

Der Shift hin zu den digitalen Medien des Internets war vorhersehbar. Denn die Digitalen – so das Versprechen – können personalisieren. Und in der personalisierten, hochrelevanten Ansprache liegt der Werbeerfolg. Das wissen auch die Direktmarketing-Experten seit über 30 Jahren. Und noch eins wissen sie: Zum Personalisieren braucht man Kundendaten und Kundenprofile. Die aber muss man sich mit viel Schweiss und Mühe jahrelang erarbeiten. 

Doch Blood, Sweat & Tears sind nicht mehr das, was Millenial-Marketiers heute noch aufbringen wollen. «Braucht Ihr auch nicht», locken die Martech- und Adtech-Plattformen und versprechen personalisierte Werbung auf die bequeme Tour. Hinter den Mauern ihrer Walled Gardens züchten die Internet-Giganten ihre ureigensten Datenfelder. Bequem gedealte Daten – das ist der Stoff, der die Wachstumsträume moderner Marketingleute beflügelt. Aber immer nur für den Moment. Denn solche Instant-Daten kann und darf man selbst nicht weiterpflegen für die nächste Kampagne. Man muss den Daten-Stoff immer und immer wieder aufs Neue erwerben – zum tagesaktuellen Höchstpreis: Ein uraltes Geschäftsmodell, mit dem schon ganz andere Branchen unermesslich reich wurden.

Online-Marketing auf dem Rückschritt zum Blindflug

Doch nun bröckeln die Geschäftsmodelle: Search Media und Social Media bekommen Glaubwürdigkeitsprobleme im Zeitalter von Fake-News und Cambridge Analytica. Und Editorial-Media muss sein Inventar in Zukunft wohl ohne Cookies vermarkten – weil’s grosse Browserhersteller unterbinden, weil die ePrivacy-Verordnung immer strengere Auflagen macht und weil immer mehr User ihre Einwilligung zum Cookie-Einsatz verweigern. «Programmatic Advertising auf Basis des über Cookies ermittelten Nutzerverhaltens wird wohl aussterben», proklamiert Benjamin Bunte, der Geschäftsführer von Performance Media Deutschland, einer Agentur für digitale Mediaplanung und -beratung. Drastisch formuliert er: «Online-Marketing befindet sich auf dem Rückschritt zum Blindflug.» 

Eigentlich schade. Denn Programmatic Advertising ist eine der smartesten Werbeformen überhaupt. Beim programmatischen Aussteuern wird schliesslich nur dann Werbung geschaltet, wenn die zu vermittelnde Werbebotschaft auch als relevant für den jeweiligen Empfänger ermittelt worden ist.

In jeder Phase der Customer Journey kann Programmatic Printing punkten.

Wie kommen Marketiers aus der Abhängigkeit von Tech-Giganten und Cookies wieder heraus? 

Die Fachzeitschrift W&V schreibt: «Die Marketing-Aktivitäten wieder enger ans eigene Haus heranzuholen, liegt im Trend.» Bekommen also Owned Media in den Nach-Corona-Jahren einen höheren Stellenwert in der User Journey? Und wenn ja, welche Eigenmedien sind das? Welche Rolle wird Print dabei einnehmen?

W&V bezieht sich auf eine Studie der ­Digitalagentur Cocomore. In ihrer Feldforschung mit 1000 Probanden ermittelte Cocomore die Barrieren und Pain Points der Markenkommunikation und kommt zum Schluss: «Wer sich also die Mühe macht, hinter die Fassade von stereotypen Annahmen zu schauen, hat die Chance, seine Services (online oder offline) in der User Journey zu optimieren und zu orchestrieren. Es geht nicht um eine Entscheidung für oder gegen online, sondern um eine Verbindung aller Kanäle, um eine optimale User Experience zu gestalten.»

Die Bedeutung der einzelnen Owned-­Media-Kanäle in den jeweiligen Phasen des Sales Funnels ermittelte Cocomore am Beispiel des FMCG-Markts. Das Ergebnis bei den Fast Moving Consumer Goods, den Produkten, die täglich benötigt werden: In den Phasen der Awareness und der Information über Produkte sind die eigenen Websites mit 20,5 % relevanter als Onlinesuche und Displayanzeigen. In der Considerationphase, wenn die Verbraucher den Kauf abwägen, ziehen sie unabhängige Testberichte (17,6 %) heran, gehen auf Onlinesuche (10,9 %) und klicken auf Onlineanzeigen (11,6 %). Sind sie von einem Produkt überzeugt, abonnieren 10,9 % den Newsletter oder besuchen regelmässig die Website (10,9 %). Was Cocomore als Pure-Internet-Agency aber nicht abfragte, das ist der Einsatz und die Nutzung des Printkanals, der gerade als Owned Media besonders zielgerichtet ausgesteuert werden kann. In diesem Versäumnis zeigt sich einmal mehr das Silodenken in der Werbe- und Marketingwirtschaft. 

Owned Media trumpft neu auf gegenüber Social-, Search-, Retail- und Editorial Media.

Welche Bedeutung wird Programmatic Printing erlangen? 

So wie sich aus der guten alten Plakatwerbung das moderne Medium DOOH (Digital Out of Home) entwickelte, so werden auch die neuen Chancen des guten alten Gutenberg-Mediums Druck kommen. Out of Home-Medien verzeichnen eine signifikant steigende Nachfrage. Der Marktanteil an den Gesamtwerbeausgaben in Deutschland verdoppelte sich in nur sieben Jahren von unter 3 Prozent auf fast 7 Prozent. Der Grund liegt in der Digitalisierung der Displays, die seit 10 Jahren mehr und mehr auch programmatisch ausgesteuert werden können.

Wie aber wird Print programmatisch? Seit 2018 sind alle Grundvoraussetzungen erfüllt. Die jüngste Generation des High­Speed-Inkjets hat ein Qualitätsniveau erreicht, das dem Offsetdruck in nichts nachsteht. Hinzu kommen das hohe Produktionstempo und die damit verbundenen niedrigeren Stückkosten bei hohen Auflagen. Die Maschineninstallationen werden nach Corona auf breiter Front anziehen. Personalisierungssoftware für den Druck gibt es seit 20 Jahren. Was noch fehlt, ist ein Shift im Bewusstsein der Auftraggeber von Werbung und bei den Kreativen. Sie müssen ihre Angst vor dem neuen alten Medium überwinden. 

Was ist Programmatic Printing?
Das Beste aus zwei Welten Wie der Doppelname schon sagt, verknüpft Programmatic Printing das beste Prinzip aus der Online-Werbewelt mit dem besten Prinzip aus der Druckwelt. Programmatic Advertising oder Programmatische Werbung bezeichnet laut Wikipedia im Online-Marketing den «vollautomatischen und individualisierten Ein- und Verkauf von Werbeflächen in Echtzeit». So wird gewährleistet, dass den Nutzern von Search-Media und Social-Media, sowie den Lesern von Online-Zeitungen und Online-Magazinen (Editorial-Media) die relevantesten Anzeigen-Contents ausgespielt werden.

One-to-One im HighSpeed-Inkjet
Digitaldruck ermöglicht das Drucken variabler Daten – also die one-to-one-Aussteuerung jeder einzelnen Druckseite. Ein Tipp für Millenials: Betrachtet ein weisses Blatt Papier einfach als den flachsten Flatscreen der Welt. Dabei ist der HighSpeed-Inkjet (HSI) – im Gegensatz zum tonerbasierten Digital­druck – dasjenige Digitaldruckverfahren, das im grossindustriellen Massstab auch für Millionenauflagen prädestiniert ist.

Definition
Programmatic Printing bezeichnet die in einer Marketing-Automationskette erzeugte Produktion von personalisierten und individualisierten Printprodukten (Kataloge, Magazine, Mailings, Transaktionspapiere) samt deren postalischen volladressierten Just-in-Time-Zustellung in die Briefkästen ausgewählter Empfänger. Dabei werden auf der Basis von Zielpersonen-Profilen aus Datenbanken heraus, alle Bilder, Grafiken, Texte sowie weitere Inhalte in der Zielsprache individuell von einer Personalisierungssoftware zusammengestellt und im Variablen Datendruck (VDP) one-to-one gedruckt. Im Direktmarketing wird Programmatic Printing durch besonders definierte Anlässe ausgelöst. Solche Trigger können sein: ein verlassener Warenkorb, der neue Saison-Katalog, der Geburtstag, das baldige Auslaufen eines Servicevertrags usw. Im Bereich Editorial Media bei digital gedruckten Zeitschriften bestimmt ein Abgleich (Matching) der Abonnentenprofile mit den von den Advertisern vorgegebenen Wunschprofilen sämtliche Parameter, nach denen die personalisierten Contents von individualisierten Anzeigen ausgespielt werden.

Customer Communication Management
Dank Variable Data Printing (VDP) lässt sich das Beste aus Push- und Pullmarketing mit dem Besten aus Programmatic Advertising verbinden. In Kombination mit einem Customer Communication Management (CCM) lässt sich Print genauso direkt ausspielen wie eine Retargeting E-Mail. Mit zwei entscheidenden Vorteilen: Für volladressierte Printwerbung braucht man nach wie vor keine Permission des Empfängers und muss lediglich ein paar Vorgaben der DSGVO beachten. Print landet in postalischen Briefkästen, die – anders als die E-Mail-Boxen – nicht unter Verstopfung leiden: Das treibt in Verbindung mit der Haptik und Anmutung von Print die Sichtbarkeit (Viewability) und Öffnungsraten (Opening Rates) nach oben und zahlt sich in besonders hohen Conversion Rates aus, die bis hoch in den zweistelligen Prozentbereich reichen. 

Programmatic Printing im Direktmarketing
Programmatic bedeutet auch, dass man nicht wahllos drauflosdruckt, sondern anlassbezogen kommuniziert. Die Trigger kann man je nach Bedarf setzen: ein verlassener Warenkorb, der Geburtstag, der neue Saison-Katalog, das baldige Auslaufen eines Servicevertrags usw. Die Personalisierung erschöpft sich nicht in der persönlichen Anrede, sondern bezieht alles Wissen um den Empfänger mit ein. Aus Bilder- und Textdatenbanken wird dann jede Postkarte, jedes Mailing, jeder Katalog spezifisch gemäss dem Empfänger-Profil zusammengestellt. Das ist Programmatic Printing in seiner Direktmarketing-Form.

Programmatic Printing in Editorial Media Programmatic Printing im Bereich der Editorial Media gleicht noch mehr dem Programmatic Advertising, wie es die Onliner kennen. Da in Zukunft mehr und mehr Zeitschriften (oder zumindest deren Umschläge) digital gedruckt werden, steht einer Personalisierung oder Geolokalisierung nichts mehr im Wege, sofern die Magazine volladressiert ausgeliefert werden, was bei Abo-Zeitschriften und Corporate-Publishing Magazinen stets der Fall ist. Der Axel Springer Verlag, Burda Media, die Motorpresse, VW und weitere bieten es heute schon an. Es gibt sogar bereits eine Demand-Side-Plattform zu dieser programmatischen Variante der Printwerbung. Sie heisst Pryntad und ist seit Januar 2020 bei der Hamburger Morgenpost im Einsatz.

Der Flywheel-Effekt nach Corona
Flywheel heisst auf Deutsch Schwungrad. Wenn plötzlich alles zusammenkommt, was es zum Durchbruch neuer Möglichkeiten braucht, dann spricht man vom Flywheel-Effekt. Dann nimmt das Schwungrad mit jedem Impuls immer mehr Fahrt auf und hebt zu Höhenflügen an. Diesen Höhenflug hat der One-to-One-Digitaldruck noch vor sich. Die Voraussetzungen  dafür sind jetzt alle vorhanden. Fassen wir zusammen: 
– Sinkende Werbewirkung und Glaubwürdigkeit des Internets beflügeln alternative Kanäle.
– Die Software und Workflows für den Variablen Datendruck und die Marketing-Automation sind ausgereift. – Der HighSpeed-Inkjet hat Quantensprünge an Qualität, Geschwindigkeit und Preis hingelegt.
– Die Millenials kommen ans Ruder. 

Was jetzt noch fehlt, ist der Mut aller Beteiligten, ihre inneren Schranken zu öffnen und die Angst vor dem Neuen, diese einengende Neophobie zu überwinden.  Wenn wir nach der Corona-Krise unsere Betriebe wieder in Gang setzen, wenn unsere Druckmaschinen wieder Fahrt aufnehmen, dann werden wir zurückschauend erkennen, dass dieses Virus uns und unser Zusammenleben verändert hat. Wir werden wohl ein grosses «Gefühl der geglückten Angstüberwindung» erleben, wie es der Zukunftsforscher Matthias Horx voraussagt. Wir werden dann gemeinsam etwas überwunden haben, vor dem uns derzeit noch graut. 
Im Vergleich dazu, werden Aufgaben wie der Einstieg ins Programmatic Printing vergleichsweise klein erscheinen. Wenn wir die derzeit erzwungene Schaffenspause beherzt dazu nutzen, uns weiterzubilden und Pläne für die Nach-Corona-Zeit zu schmieden, dann wird der Grafischen Industrie der Anschluss an die Zukunft gelingen. 

  • Autor Gerhard Märtterer
    Gerhard Märtterer studierte Marketing und IT in Stuttgart. Gründete 2003 AlphaPicture, entwickelt seit 2005 mit Verlagen, Druckmaschinenherstellern und Softwarepartnern Prototypen
    für personalisiertes Direktmarketing, Zeitschriften, Kataloge und Transpromo. Er transformierte die
    Eversfrank Gruppe vom reinen Rollenoffsetdrucker zum integrierten Hybriddrucker und ist als «The ONE for One- to-One» weltweit beratend sowie lehrend tätig.
  • Rubrik Print
  • Dossier: Publisher 2-2020
  • Thema Digitaldruck, Programmatic Printing

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