Farbe: harmonisch und barrierefrei
Seit Mai 2020 preist Adobe eine neue Cloud- Dienstleistung mit dem Slogan «Farbharmonien und Barrierefreiheit für Farbenblinde» an. Der PUBLISHER nimmt den Service unter die Lupe und schaut zudem, was die Konkurrenz zu bieten hat.
In der Gestaltungspraxis gibt es gewisse Grundregeln, für die man nicht einmal eine Ausbildung zum Polygrafen benötigt. Etwa die, dass heller Text auf dunklem Hintergrund schwerer zu lesen ist als umgekehrt. Das hat Konsequenzen für den Mengensatz, egal ob im Druck oder fürs Internet. Wenn es um Füllfarben geht, ist die Lage komplizierter, denn hier geht es darum, für die menschliche Wahrnehmung akzeptable Farbkombinationen («Harmonien») zu finden. An dieser Stelle kommen mehrere Jahrhunderte an Erfahrung, Messung und Mathematik zusammen, sodass es heutzutage möglich ist, diese Harmonien zu berechnen und in Gestaltungssoftware zu integrieren.
Mit dem Erzeugen von Farbharmonien ist ein Gestalter noch nicht am Ende, denn es gilt, die gefundene Kombination auf ihre Wahrnehmbarkeit für verschiedene Formen von Farbenblindheit zu überprüfen. Die schönste Farbkombination ist wertlos, wenn sie für einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung zu unlesbarem Matsch verschwimmt, und es wird gefährlich, wenn dasselbe auf Beschilderungen zutrifft.
Idealerweise sollten es Grafikprogramme im Sinne der Barrierefreiheit ermöglichen, Farbharmonien zu erzeugen und im Anschluss daran zu überprüfen, wie diese Farbkombinationen bzw. komplette, mit diesen Farbharmonien gestaltete Dokumente von farbenblinden Personen wahrgenommen werden. Denn nur so ist es Gestaltern möglich, bei Problemen rechtzeitig gegenzusteuern.
Adobe CC – Halbherzig
Zu den jüngsten Angeboten der Adobe Cloud gehört die Möglichkeit, Farbharmonien zu erzeugen und zu überprüfen, wie sie sich auf Farbenblinde auswirken. Mit neun Harmoniemodellen sowie einer benutzerdefinierten Option bietet Adobe die grösste Auswahl. Jedoch ist die Vorschau recht bescheiden, denn man kann sich nur für die drei häufigsten Formen der Farbenblindheit anzeigen lassen, wie betroffene Personen die Farbkombinationen sehen würden. Abonnenten können sich einloggen und erzeugte Farbkombinationen als «Farbthemen» speichern. Erfreulicherweise steht dieser Service auch der Allgemeinheit zur Verfügung, sofern diese bereit ist, die Farbdaten per Hand zu kopieren.
Allerdings muss man sich bei der Nutzung dieses Angebotes bewusst sein, dass Adobe hier etwas Etikettenschwindel betreibt. Eine Überprüfung der Farbwerte ergibt, dass Harmonieberechnungen wohl auf der Grundlage des in Photoshop «HSB» genannten und RGB-basierten Farbmodells durchgeführt werden. Dies gilt auch dann, wenn auf LAB umgeschaltet wird, denn die in diesem Modus angezeigten Werte entsprechen nicht denen, die sich aus einer Kalkulation in LAB ergäben.
Adobes drei Kreativwerkzeuge können von Haus aus nicht unbedingt überzeugen. In InDesign sucht man vergeblich nach einer Möglichkeit zur Simulation von Farbenblindheit für Dokumente, und die Empfehlung lautet, eine aus InDesign exportierte PDF-Datei in Illustrator zu öffnen. Letzterer und auch Photoshop kennen nur die beiden häufigsten Formen von Rot-Grün-Sehschwäche.
Besser sieht es bei Farbharmonien aus, denn hier ist der Marktführer gut ausgestattet, und zwar mittels der Extension «Adobe Color Themes» oder Bordwerkzeugen. Wie üblich muss man die entsprechenden Farbwerkzeuge in jedem Programm auf andere Art und Weise aufrufen und auch deren Bedienung unterscheidet sich. Im Gegensatz zum Cloud-Service verfügen die Programme nur über sechs Harmonieschemata, deren Auswirkungen auf Farbenblinde jedoch nicht unmittelbar überprüft werden können.
CorelDraw – Umständlich, unvollständig, aber gut
Die seit einiger Zeit auch wieder für Mac verfügbare Software ist bezüglich Farbenblindheit gewissermassen farbenblind, das heisst, es ist derzeit nicht möglich, Grafiken auf farbliche Barrierefreiheit zu überprüfen.
Wenn man den umständlichen Weg, Farbharmonien in CorelDraw anzulegen und zu speichern, erst einmal begriffen hat, kommt man zu ansprechenden Ergebnissen. Vorausgesetzt, man ist bereit, die Unschärfe der auf dem RGB-Farbmodell beruhenden Kalkulationen zu akzeptieren.
Zum Erzeugen einer Farbharmonie muss man in CorelDraw zunächst einen neuen Farbstil anlegen und kann anschliessend mit dem Farbrad verschiedene Arten von Harmonien, ausgehend von einer Grundfarbe, aufbauen. Es stehen dafür sechs Varianten zur Verfügung. Auch wenn es einige Zeit braucht, um mit Corels Bedienlogik vertraut zu werden, lohnt sich der Aufwand und liefert Ergebnisse, die denen der Hausmittel von Adobe vergleichbar sind.
GIMP – Verspielter Vorsprung
Die freie Bildbearbeitung GIMP unterstützt die Simulation von Farbenblindheit schon lange und hat daher einen festen Sitz im Pantheon der Barrierefreiheitsprogrammierer sicher. Lange bevor die meisten kommerziellen Anbieter und auch viele Open- Source-Projekte das Problem erkannt hatten, hat das GIMP-Team die notwendigen Algorithmen veröffentlicht und in GIMP eingebaut. Indes hat die Entwicklung seit dieser Pionierleistung stagniert, sodass man unter Ansicht > Ansichtsfilter… > Farben blindheit nur drei Vorschaumodi vorfindet.
Weil GIMP derzeit nur einfachste RGB- Farbpaletten im veralteten GPL-Format unterstützt und ein Farbharmonie-Werkzeug in einem reinen Bildbearbeitungsprogramm nur von begrenztem Nutzen ist, sucht man nach einem Farbrad mit einer Funktionalität wie in CorelDraw vergeblich. Stattdessen enthält GIMP ein anderes, hochinteressantes Feature, nämlich die Möglichkeit, auf der Grundlage eines Fotos mit ausgewogener Belichtung eine harmonische Farbpalette zu erzeugen. Zu diesem Zweck muss man die Bilddatei öffnen und den Dialog Fenster > Andockbare Dialoge > Paletten aufrufen. Mit einem Rechtsklick im entsprechenden Dialogfenster kann man anhand der Farbinformationen der Pixeldatei mit vielen Parametern eine bildbasierte harmonische Farbpalette erzeugen.
Inkscape – Top und Flop
Das freie Vektorgrafikprogramm Inkscape verfügt bereits seit Jahren über einen Filter, mit dessen Hilfe es möglich ist, Farbenblindheit zu simulieren. Man findet diesen unter Filter > Farbe > Farbenblindheit… Mit sieben unterstützten Formen dieser Sehstörung steht Inkscape in Sachen Barrierefreiheit an der Spitze der getesteten Programme. Leider hat dieser Filter einen Haken, denn er bezieht sich nur auf die jeweils ausgewählten Objekte. Um das gesamte Dokument zu überprüfen, muss man erst alles auswählen, bevor man ihn anwenden kann.
Die bequeme Erzeugung von Farbharmonien, obwohl gerade für ein Vektorprogramm äusserst nützlich, ist derzeit noch nicht möglich. Eine Inkscape-Entwicklerin hat sich der Sache aber angenommen.
Scribus – Knapp vorbei
Wenn es um die Handhabung von Farbe geht, hat das Open-Source-DTP-Programm Scribus oft die Nase vorn (PUBLISHER 1-2020). Auf den ersten Blick gilt dies auch für die beiden hier entscheidenden Kriterien. Scribus ermöglicht eine auf dem Farbmanagement basierende Vorschau eines kompletten Dokuments mit vier Varianten von Sehschwächen. Darüber hinaus enthält auch Scribus ein Farbrad, das jedoch übersichtlicher und leichter zu bedienen ist als das der Konkurrenz. Wie die Angebote von Adobe und Corel bietet Scribus sechs Farbharmonien an. Diese leiden aber ebenfalls an der RGB-basierten Berechnung der Harmonien. Obwohl das Programm LAB unterstützt, hat sich dies noch nicht auf das Farbrad ausgewirkt. Weiterhin stört die Tatsache, dass sich die Farbharmonien nur pro Dokument festlegen lassen und nicht exportiert werden können. Immerhin ermöglicht Scribus als einziges Programm die Überprüfung von Harmonien auf die Wahrnehmung durch Menschen mit Farbsehschwächen.
Fazit
Kein Anbieter hat sich im Test mit Ruhm bekleckert. Das Cloud-Angebot von Adobe ist vielversprechend, aber noch nicht ausgereift. Was die anderen Anwendungen betrifft, kann man die Ergebnisse insgesamt bestenfalls als befriedigend bezeichnen. Besonders enttäuschend ist die durchgängig fehlende Unterstützung des wahrnehmungsbasierten LAB-Farbmodells, das wesentlich bessere Ergebnisse liefert. Diesbezüglich haben alle Softwareanbieter noch ihre Hausaufgaben zu erledigen
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Autor
Christoph Schäfer
- Rubrik Publishing
- Dossier: Publisher 4-2020
- Thema Farbharmonien, Farbenblinde, Barrierefreiheit
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