Das eigene Antlitz im Spotlight
Selbstporträts müssen beileibe keine schnöden Smartphone-Selfies oder ausdruckslose Eigenbildnisse sein – im Gegenteil: Die Autoren des Rheinwerk-Buches «Das Selbstporträt» demonstrieren anhand ihrer eigenen Selbst-Darstellungen, wie es mit ein wenig Kreativität und einem durchdachten Konzept gelingt, das persönliche Konterfei in expressive Momentaufnahmen zu verwandeln und seine Persönlichkeit in Bildform ideal in Szene zu setzen. Ein Auszug.
Märchen und Mythen
Wenn ich mir meine ersten Versuche in der inszenierten Selbstporträtfotografie anschaue, kann man wohl sagen, dass Märchen und Mythen mich von Anfang an begleitet haben und sogar meine erste richtige Inspirationsquelle waren. Blumen, wallende Kleider, fliegende Stoffe, Nebel und sogar explizite Märchen wie «Die Schöne und das Biest», «Schneewittchen» und «Rotkäppchen» beherrschten meine Bilder.
Heutzutage ist es kaum anders. Eine mystische Atmosphäre und surreale Szenen begeistern mich noch immer und fliessen weiterhin in vollem Masse in meine Arbeit ein. Ich kann beim besten Willen nicht sagen, warum Märchen einen so starken Einfluss haben, warum dieser Hauch einer anderen magischen Welt mich so sehr reizt. Vielleicht ist es nun mal der simple Wunsch, etwas anderes in dieser Welt zu haben. Eine Welt, die mehr Möglichkeiten bietet als diese hier. In der man Feen, Elfen und Könige finden kann, wo es verwunschene Gärten gibt und sogar Drachen existieren können. Ich kann praktisch alles in dieser Welt umsetzen, was ich mir vorstellen kann.
Vielleicht liegt es aber auch daran, dass Märchen meine Kindheit geprägt haben. Aschenbrödel war meine Heldin, mein Barbie-Pferd hiess Fallada und in meinem Lieblingsmärchenbuch von Hans Christian Andersen kannte ich jedes Detail all der wunderschönen Illustrationen – vor allem die der kleinen Seejungfrau. Ausserdem gab es keine schönere Beschäftigung für mich als das Verkleiden. Ich erinnere mich, wie ich als Kind bockig vor dem Kleiderschrank sass und es nicht einsehen wollte, Hosen zu tragen. So war die Verkleidungskiste ein magischer Anziehungspunkt für mich: allerlei lange wallende Kleider, mit denen ich Prinzessin spielen konnte! Wer weiss, vielleicht sind diese märchenhaften Bilder, die ich nun kreiere, auch ein unterbewusster Weg, mich in diese Märchenwelten zu flüchten. Eine Chance, das zu leben, was ich als Kind kennengelernt und durch das Verkleiden und Spielen ausgelebt habe.
Natur
Auf dem Land aufgewachsen, nutzte ich natürlich von Anfang an die Umgebung, die ich hatte – unseren Garten, das Feld dahinter, den Wald. Damals passte das perfekt in meine verwunschene Märchenwelt hinein. Heutzutage liebe ich es aber auch die Magie, die der Natur in dieser Welt innewohnt, zu zeigen. Es braucht nicht immer andersartige Wesen und eine kreierte Photoshop-Szenerie, um eine zauberhafte Welt zu zeigen. Unsere Erde bietet unglaublich viele schon vollkommene Locations, und ich wünschte, ich hätte Zeit und Geld, um mehr von diesen Orten zu entdecken. Der Vorteil der Natur ist aber, dass sie überall ist. Man wird, wohin man geht, kleine magische Ecken finden können – der Fliederbusch im Garten kann es sein, die Baumgruppe am Wanderweg oder der Apfelhain, der an der Strasse liegt.
Ich lasse mich konstant von meiner Umgebung inspirieren, nutze das, was ich finde und was mit den Jahreszeiten so kommt. Mal werde ich plötzlich von einer Mohnblumenwiese überrascht, mal tauchen Streifen von Sonnenblumen auf den Äckern ums Dorf auf. Im nächsten Jahr wachsen wieder andere Blumen auf diesen Grünstreifen und inspirieren mich womöglich zu etwas ganz anderem. Auch Plätze in dem Wald, in dem ich geradezu aufgewachsen bin, lassen sich immer wieder neu entdecken und zeigen in einem anderen Licht, einer anderen Jahreszeit oder in meinem heiss geliebten Nebel ganz neue Facetten.
Auf Reisen gehören das Stativ und mindestens zwei Kleider mittlerweile fest zu meinem Gepäck. Man weiss ja nie, welch schöne Szenerien einen erwarten und woran man so vorbeikommen wird. Oder man weiss es schon ganz genau und hat vorher das ganze Internet umgewühlt, um schon mal einen Eindruck von der Gegend zu bekommen und vielleicht den einen oder anderen Geheimtipp aufzustöbern. Das passiert mir mittlerweile häufiger. So machte ich im letzten Herbst zum Beispiel ganz bewusst eine kleine Reise in den Harz, da ich dort Locations gefunden hatte, die ich unbedingt sehen und fotografieren wollte. Der Klusfelsen war einer dieser Orte und eigentlich hatte ich hierfür kein bestimmtes Bild oder Konzept im Kopf. Dennoch nahm ich lieber mein Equipment mit auf die Wanderung, denn ich kenne den Schmerz einer verpassten Fotochance nur zu gut. Und tatsächlich: Diese Location stellte sich dann als mein Favorit der letzten Tage heraus und wurde natürlich auch für ein Selbstporträt genutzt.
Das Selbstporträt
von Katja Heinemann, Frank Linders, Marlena Wels, Charlotte Wulff
Auszug von Marlena Wels
Das Buch ist für 34,90 Euro beim Rheinwerk Verlag erhältlich.
287 Seiten, 2021, gebunden, in Farbe
Rheinwerk Fotografie,
ISBN 978-3-8362-8038-9
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Autor
Patrick Schenk
- Rubrik Design & Praxis
- Dossier: Publisher 4-2021
- Thema Buchvorstellung
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