Luzern ist nicht Hollywood -nicht-linearer Videoschnitt mit freier Software
Zwischen den Ansprüchen einer Milliardenindustrie wie den Film- und Fernsehstudios und denen mittelständischer Unternehmen für ihre eigenen Videoproduktionen klaffen erhebliche Lücken. Freie Schnitt- und Bearbeitungsprogramme eignen sich nicht nur aus Kostengründen oft besser für angemessene professionelle Ergebnisse.
Wer sich unter Filmeditoren der grossen Filmstudios umhört, stellt schnell fest, dass sich die eingesetzte Software auf wenige Produkte beschränkt: Avid MediaComposer, DaVinci Resolve, Lightworks und Adobe Premiere. Besucht man die einschlägigen Benutzerforen, ist zunehmend Wut und Frustration zu erkennen: erzwungene Updates, die bisherige Funktionen unbrauchbar machen, sowie häufige Programmabstürze und damit verbundene Datenverluste, die wiederum Überlastung des Personals und höhere Kosten zur Folge haben. Viele Studios haben deswegen eine Strategie entwickelt, die im Blockieren von Updates und der Optimierung der Hardware für die jeweilige Anwendung besteht. Avid und Blackmagic bieten Komplettlösungen sogar direkt zum Kauf an.
Für mittelständische Unternehmen ist dies jedoch kein gangbarer Weg. Deshalb lohnt es sich, einen Blick auf zwei leistungsfähige Open-Source-Videoschnittprogramme zu werfen, die auf allen drei Desktop-Plattformen und auf Standard-Hardware funktionieren.
MLT und FFmpeg
Die beiden Programme, die wir hier näher betrachten, Shotcut und Kdenlive, verwenden dieselbe Multimedia-Infrastruktur – nämlich MLT. Diese wurde von einem Unternehmen (Meltytech) entwickelt und veröffentlicht, das sich anstelle von kostenpflichtiger Lizenzierung der Software auf massgeschneiderte Dienstleistungen spezialisiert hat. Die Publikation des Programmcodes unter einer freien Lizenz beschert der Firma nicht nur kostenlose Verbesserungen der eigenen Produkte, sondern ermöglicht es auch anderen, ihre Geschäftsideen in Sachen Multimedia umzusetzen. Das Schnittprogramm Shotcut wird ebenfalls von Meltytech betreut und dient zusammen mit MLT als Grundlage für angepasste Audio- und Video-Lösungen – dies für Kunden wie TV-Sender und Bildungseinrichtungen. MLT verwendet seinerseits die freie Multimedia-Bibliothek FFmpeg.
Kdenlive ist Teil des freien Desktop-Projektes KDE, lässt sich aber auch ohne diese grafische Umgebung unter Windows und macOS nutzen. Im Unterschied zu Shotcut verfolgen die Programmierer von Kdenlive keine kommerziellen Interessen, sondern möchten als Video-Enthusiasten das für ihre anspruchsvollen Zwecke bestmögliche Programm entwickeln.
Leistungsfähig und flexibel
Vorweg: Wer mit iMovie oder Windows Fotos zufrieden ist, sollte dabei bleiben, denn sowohl Shotcut als auch Kdenlive sind wesentlich komplexer als diese Anfängeranwendungen, weil sie sich in Sachen Benutzeroberfläche an den Marktführern im Profibereich orientieren und Fachwissen voraussetzen. Beide Programme können eine reichhaltige Online-Dokumentation in der Form von Handbüchern, Tutorien und Videos vorweisen, und die Benutzerführung ist gut durchdacht. Ausserdem funktionieren die Programme auch auf Hardware, die beispielsweise die Installation von Premiere ausschliesst. Beide Kandidaten werden regelmässig aktualisiert, ohne dass Anwendern die Updates aufgezwungen werden.
Wer mit den Marktführern vertraut ist, sollte sich in beiden Programmen schnell zurechtfinden, denn sie enthalten beinahe alle erwarteten Tools – und im Zweifelsfall hilft eine kurze Suche im Internet. Zudem unterstützen beide Programme mehrere Monitore.
Die Konfigurierbarkeit lässt kaum etwas zu wünschen übrig, die Unterschiede zeigen sich in den Details. Hier schneidet Shotcut, das ähnliche Einstellungsmöglichkeiten wie Premiere bietet, etwas besser ab als Kdenlive.
Obwohl beide Anwendungen MLT verwenden, kann man Projektdateien nicht beliebig austauschen. Kdenlive kann wohl das native Shotcut-Format einlesen, was aber höchstwahrscheinlich mit einigen nachträglichen, manuellen Anpassungen einhergeht. Der Weg aus Kdenlive nach Shotcut ist hingegen versperrt.
Beide Anwendungen ermöglichen es, eine unbegrenzte Anzahl an Video- und Audiospuren in einem Projekt zu verwenden. Darüber hinaus bieten sie – anders als einige Hollywood-Produkte – eine deutschsprachige Benutzeroberfläche.
Nach dem Crash
Im Gegensatz zu etablierten Workflows für Web und Druck sind gelegentliche Programmabstürze in der Videobearbeitung wegen der weitaus höheren Komplexität der zu verarbeitenden Daten zu erwarten. Die Frage ist daher, wie sich Schnittprogramme bei der automatischen Wiederherstellung schlagen.
In einem Test mit bewusst ausgewählten, problematischen Dateien gab es einen klaren Sieger, nämlich Kdenlive: Die Software hat das komplexe abgestürzte Projekt verlässlich wiederhergestellt. Im Gegensatz dazu lässt Shotcut Anwender bei Projekten mit vielen Spuren manchmal im Stich, obschon die Entwickler die Wiederherstellungsfunktion in den letzten Versionen stark verbessert haben.
Insgesamt schlagen sich die beiden Kandidaten im Vergleich zur kommerziellen Konkurrenz ausgesprochen gut. Man muss sich mittlerweile wirklich Mühe geben, um einen Absturz zu erzwingen – insbesondere, wenn man die verwendeten Clips entsprechend vorbereitet hat, z. B. mit Avidemux (vgl. Artikel im PUBLISHER 1-2021, Seiten 22–23).
Grün und Blau
Ähnlich wie bei der Bildbearbeitung gehört das Freistellen in der Videoproduktion zu den anspruchsvolleren Aufgaben. Im Unterschied zur Fotoretusche wird hier eine Technik mit der Bezeichnung «Chroma Keying» verwendet. Bei dieser werden Bildbereiche in einer bestimmten Chrominanz (Farbigkeit) als transparent markiert. Ein typischer Einsatzbereich ist ein Sprecher vor einem nachträglich hinzuzufügenden Hintergrund. Da Hautfarben kein Grün oder Blau enthalten, werden Menschen meist vor einem Green- bzw. Bluescreen aufgenommen.
Beide vorgestellten Produkte meistern die für Mittelständler relevanten Grundaufgaben ohne Probleme. Sobald es jedoch etwas komplexer wird, hat Kdenlive die Nase vorne, weil es mehrere gut dokumentierte Wege zum Ziel anbietet.
Kino-Qualität?
So gut beide Programme auch sein mögen, ist hervorzuheben, dass es noch einige Lücken im Vergleich zu den in Hollywood verwendeten Produkten gibt. Es ist beispielsweise nicht möglich, OpenFX-Filter zu benutzen – wohl die grösste Schwäche. Darüber hinaus ermöglichen beide Anwendungen zwar den Import und Export von Videos als Einzelbilder, was insbesondere für Spezialeffekte wichtig ist. In Sachen Dateiformat können sie Profiprogramme allerdings nicht konkurrenzieren: OpenEXR und andere hochauflösende Formate stellen einstweilen Fremdwörter dar. Anwender müssen sich stattdessen mit PNG und JPEG begnügen. Kdenlive erlaubt zumindest den Export einer Bildsequenz im TIFF-Format.
Auch die Farbabstimmungsmöglichkeiten können sich nicht mit denen spezialisierter Programme messen, aber das gilt in ähnlichem Masse für die Marktführer, die mit Ausnahme von DaVinci Resolve zusätzliche Plug-ins benötigen, um den höchsten Anforderungen gerecht zu werden. Immerhin unterstützen beide Programme von Haus aus die beiden gängigen Farbräume für HD-Videos, nicht aber den für Kinofilme.
Stellvertreter und Notizen
Wenn man nicht die volle Rechenleistung eines Filmstudios zur Verfügung hat und beispielsweise einen Film auf dem Laptop im Zug schneiden muss, sind sogenannte Proxy-Videos – niedrigauflösende Kopien – von Vorteil, weil sie eine ruckelfreie Vorschau des Endproduktes erlauben. Änderungen an der Proxy-Datei werden dann beim Export automatisch auf die Originale übertragen. Beide Schnittprogramme ermöglichen das Arbeiten mit Proxy-Dateien, aber Kdenlive funktioniert auch hier deutlich besser. Beim Export als Bildsequenz muss indes immer darauf geachtet werden, nicht versehentlich die Proxy-Videos zur Grundlage zu machen.
Ein bedeutender Unterschied zwischen Kdenlive und Shotcut ist die Möglichkeit, bei der Durchsicht des Filmmaterials Kommentare für die spätere Bearbeitung einzufügen. Shotcut hat in dieser Hinsicht nur einfache farbliche Markierungen zu bieten, während Kdenlive das Einfügen von Textnotizen ermöglicht. Shotcut erlaubt aber wenigstens die Kommentierung von einzelnen Clips mittels eines Eigenschaftendialogs.
Schnell rein, langsam raus
Wenn es um den Import von Fotos und Videos geht, verhalten sich Shotcut und Kdenlive fast identisch, denn dank FFmpeg gibt es kaum etwas, mit dem man sie nicht erfolgreich füttern kann. Beim Rendern des fertigen Schnitts bietet Kdenlive derzeit die grössere Bandbreite, die vom animierten GIF bis hin zu UHD-Video in 4K-Auflösung reicht – eine Qualität, die viele Fernsehsender bis heute nicht bieten können. Shotcut macht es Anwendern aber leichter, die richtigen Parameter für das gewünschte Ausgabeziel (z. B. YouTube oder PAL-Fernsehen) auszuwählen.
Shotcut zeichnet sich auch durch eine grössere Rendergeschwindigkeit aus, weil es die vorhandene Hardware besser nutzt, aber selbst auf einem sehr gut ausgestatteten Rechner sollte man keine Wunder erwarten.
Fazit
Für Unternehmen, die professionelle Videos für verschiedene Plattformen knapp unterhalb der Kinoqualitätsgrenze produzieren möchten und auf OpenFX Plug-ins verzichten können, eignen sich beide Programme gleichermassen. Zudem laufen sowohl Shotcut als auch Kdenlive auf gut ausgestatteter Multimedia-Hardware stabil.
Kdenlive verfügt über einen hervorragenden Funktionsumfang, der über ein reines Schnittprogramm weit hinausgeht. Sind hingegen eher tagesaktueller journalistischer Schnitt oder der Einsatz in Bildungseinrichtungen gefragt, lohnt es sich, einen Blick auf Shotcut in Verbindung mit den Zusatzangeboten des Herstellers zu werfen.
Da MLT seit kurzem ausserdem 10-Bit-Farbtiefe unterstützt, dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis diese auch in den beiden Testkandidaten zur Verfügung steht.
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Autor
Christoph Schäfer
- Rubrik Publishing
- Dossier: Publisher 2-2022
- Thema Videobearbeitung
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