Es ist ganz einfach komplex
Steve Jobs hat sich in der Nokia-Ericsson-Ära einmal in der Art geäussert, dass ein Telefon nur eine Taste haben darf. Wie sollte dies gehen? Die Smartphone-Telefonie war damals beschränkt auf klassisches Telefonieren und kostenpflichtige SMS. Der grosse Visionär sollte in der Stossrichtung Recht behalten, falls er damit die Einfachheit der Oberfläche meinte.
Die Ingenieure gingen (wie so oft) einen anderen Weg: Sie implementierten so viele Funktionen, wie überhaupt technisch derzeit möglich war. So läuft es auch heute. Überall, wo Software im Einsatz ist, wird die Maximalvariante entwickelt und verkauft. Ob wir Konsumenten die Maximalvariante überhaupt brauchen, fragen sich die Macher nicht.
Ein Beispiel sind die zunehmend mit KI ausgestatteten Autos, die mit Technik überladen sind. Die dicken PDF-Handbücher im Tech-Slang vermögen mich nicht zu motivieren, nachzuschauen, welcher Knopf im Subsubmenü hinten links deaktiviert werden müsste, damit das Auto im Rückwärtsgang aufhört zu pfeifen, wenn ich einen Fahrradträger aufgesetzt habe. Der Wagen warnte mich wiederholt, im Rad hinten rechts sei zu wenig Luftdruck vorhanden. Mein Autohändler winkt ab: «Wenns wirklich kritisch wird, blinkt eine ganze Armada auf dem Armaturenbrett, Sie können die erste Warnung ignorieren!» Sie stellt sich meistens als eine Fehlanzeige im Display (in der Software) heraus.
Kürzlich habe ich eine neue spiegellose Canon gekauft. Das PDF-Handbuch umfasst gute 1000 Seiten A4! Ich habe zweimal etwas nachzuschlagen versucht (ein Autofokusproblem) – und bin trotz guten Willens kläglich gescheitert. Das Ding ist einfach zu komplex. Ein paar Tutorials und Recherchezeit später bin ich der Lösung meines Autofokusproblems auf der Spur: Sie scheint mit dem Bildstabilisator zusammenzuhängen! Ich habe sie zwar noch nicht, ich schätze mich glücklich, immerhin Ansätze für das merkwürdige Verhalten der Kamera herausgefunden zu haben.
Herausgefunden habe ich ausserdem, dass meine Neue in der Zeitrafferfunktion nur eine zweistellige Anzahl Belichtungen zulässt, maximal 99. Das ergibt dann einen Film von drei Sekunden, grossartig. Ich kann allerdings die Anzahl Bilder auf «unbegrenzt» stellen, dann klappert die Kamera, bis der Akku leer ist. Genau gleich toll.
Steve Jobs’ einfache Bedienung ist in weite Ferne gerückt. Die Kameras werden immer komplexer, und je mehr Intelligenz eingebaut wurde, desto schwieriger wird das Verständnis für die Funktionsweise und das Zusammenspiel der einzelnen Komponenten.
Gesichtserkennung von Menschen, Hunden, Katzen (nicht von Giraffen, Goldfischen und Weinbergschnecken), Nachführautofokus, oder Belichtungseinstellungen à gogo, Verschlussarten, Serienbild- und Videotauglichkeit – wie viel Kamera braucht der Mensch?
Das gleiche Komplexitätsverhalten hindert uns am effizienten Schaffen. Photoshops, InDesigns und Illustrators unendliche Möglichkeiten werden nachweislich nur ansatzweise genutzt. Tausende von Menüs, deren Funktionen immer unübersichtlicher werden. Was bedeutet in InDesign >Objekt > Effekte > Globales Licht …? Eben. Software wird an den Usern vorbei entwickelt, es wird für uns alle immer undurchschaubarer. Software oder deren Oberfläche müsste sich doch an die User anpassen, nicht umgekehrt. Ich müsste sie wenigstens nach meinen Bedürfnissen konfigurieren können.
Ein Zitat mir unbekannter Herkunft: «Tiefenkomplexität benötigt Oberflächeneinfachheit!» Wie wahr.
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Autor
Ralf Turtschi
Ralf Turtschi ist Inhaber der R. Turtschi AG. Der Autor ist als Journalist und Fotoreporter für die Gewerbezeitung, unteres linkes Zürichseeufer und Sihltal, unterwegs. Er ist als Dozent beim zB. Zentrum Bildung, Baden,
tätig, wo er im Diplomlehrgang Fotografie der Masterclass Fotografie und an der Höheren Fachschule für Fotografie unterrichtet. - Rubrik Kolumne
- Dossier: Publisher 3-2022
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