Ein Pfadfinder wird erwachsen

In der Geteilten Ansicht wird ein Teil einer Grafik als Gittermodell dargestellt. Welcher das ist und wie Ausrichtung aussieht, lässt sich über die Pfeile einstellen.

Nach jahrelanger Arbeit und manchen Rückschlägen hat das Inkscape-Projekt die Version 1.0 des freien Vektorprogramms veröffentlicht. Die Anzahl der Neuerungen ist überwältigend, zudem wurden viele Mängel behoben.

Seit wir zuletzt einen mit Recht äusserst kritischen Blick auf Inkscape geworfen haben (PUBLISHER 1-17), sind einige Jahre vergangen. Das Entwicklerteam hat jetzt mit der Veröffentlichung von Version 1.0 auf die darin geäusserten Mängelanzeigen in weitgehend überzeugender Weise reagiert. Indes geht damit auch die Aufgabe des ursprünglichen Entwicklungsziels einher, nämlich wenigstens eine der durch das W3C empfohlenen und publizierten Versionen der SVG-Spezifikation zu unterstützen.

Eine Vektorgrafik in der Röntgenansicht. Der Pfeil im Mittelpunkt der «Lupe» fungiert als Auswahlwerkzeug.

Zum einen ist jede SVG-Spezifikation zu umfangreich, um von einem einzigen Programm komplett abgedeckt werden zu können. Zum anderen tritt die SVG-Arbeitsgruppe beim W3C ein wenig auf der Stelle, nachdem einige Konzerne das Interesse an der Weiterentwicklung dieses Formats verloren haben. Immerhin wurde im Februar dieses Jahres ein Entwurf für die SVG-Version 2.0 veröffentlicht, denn das Format ist zu verbreitet, um es zu ignorieren.

Inkscape-SVG

Anstatt sich auf eine bestimmte SVG-Version festzulegen, haben sich die Inkscape-Entwickler daher auf die Bedürfnisse ihrer Anwender konzentriert und hinsichtlich Browser-Kompatibilität Exportoptionen für das weithin unterstützte SVG 1.1 eingebaut. Diese kann man in den Einstellungen unter Eingabe/Ausgabe > SVG-Export auswählen. Um auf Windows-Systemen beim Exportieren in den Genuss dieser Optionen zu kommen, muss man in den Voreinstellungen zusätzlich unter Fenster > Desktopintegration die Funktion GTK-Dialoge für Öffnen/Speichern anklicken.

Neues Fundament

Inkscape 1.0 verwendet nun Version 3 des GTK+-Toolkits, das vor allem für die Benutzeroberfläche zuständig ist und mehr Flexibilität bei deren Gestaltung ermöglicht. Insgesamt wirkt das Programm jetzt im Vergleich zur Vorversion eleganter, aufgeräumter und wesentlich besser durchdacht.

Für Mac-Anwender ist in diesem Zusammenhang wichtig, dass Inkscape 1.0 ein natives OS-X-Programm ist und man in Sachen Bedienung keinerlei Kompromisse mehr machen muss. Da Apple der Skriptsprache Python 3 bisher reserviert gegenübersteht, Inkscape-Plug-ins aber nunmehr diese Umgebung benötigen, enthält das DMG eine komplette Python-3-Umgebung.

Inkscape massgeschneidert

Im Vergleich zu früheren Versionen lässt sich Inkscape 1.0 jetzt in einem erstaunlichen Mass anpassen. Dazu gehören beispielsweise beliebig und flexibel regelbare Farbschemata für Icons sowie die Option, einen HiDPI-Icon-Satz für die Benutzeroberfläche zu verwenden. Ein Ausflug in die Inkscape-Einstellungen offenbart zudem neue Stellschrauben, die den Umgang mit der Software verbessern.

Vektormikroskop

Zu den Höhepunkten der Version 1.0 gehören innovative Vorschaumodi, welche die Arbeit mit dem Programm erheblich erleichtern. Hier ist zuerst die «Geteilte Ansicht» zu nennen, die es erlaubt, Teile der gerenderten Grafik im Gittermodus darzustellen und dort Objekte gezielt auszuwählen. Der Steuerungsknopf  für diesen Modus funktioniert äusserst intuitiv, weshalb sich die Bedienung schnell erlernen lässt.

Die zweite grosse Ansichtsinnovation ist der «Röntgenmodus», der es Anwendern ermöglicht, komplexe und gerenderte Vektorgrafiken mit einer Art Lupe zu überfahren. Sie zeigt die Komposition als Gittermodell an und erlaubt zudem die direkte Auswahl von Objekten.

Bessere Geometrie

Inkscape 1.0 wartet endlich mit einer scheinbar banalen, aber lange überfälligen Anpassung an Industriestandards auf, indem es den Nullpunkt der Y-Achse oben statt unten links ansetzt. Diese frühere Inkscape-Besonderheit hatte viele Grafiker von der Benutzung des Programms abgehalten, weil sie nicht ihren Intuitionen entsprach.

Ein weiterer Höhepunkt ist die Option, die Arbeitsfläche nach Bedarf zu drehen. Dazu hält man die STRG- bzw. CMD- zusammen mit der Hochstelltaste gedrückt und stellt die Rotation mit dem Mausrad ein. Erfreulicherweise funktionieren dabei sowohl die horizontale als auch die vertikale Auswahl genau so, wie man es in der Standardansicht erwartet.

Webfont-Adaption

Obwohl noch nicht sehr weit verbreitet und im Printbereich nahezu inexistent, unterstützt Inkscape 1.0 eine für das Webdesign interessante Erweiterung des OpenType-Standards namens «Variable Fonts», auf den sich Adobe, Apple und Microsoft verständigt haben. Inkscape hat zudem auch die geeigneten Werkzeuge an Bord, um diese zusätzlichen Font-Optionen zu nutzen.

Pfadeffekte – endlich intuitiv

Eine der grössten Stärken von Inkscape ist schon seit Jahren die Sammlung von Pfadeffekten. In früheren Versionen musste man sich jedoch durch eine lange Liste an Effektnamen quälen, um diese aufzurufen. Für die Anwendung von Pfadeffekten anhand der Namen waren Einsteiger oft darauf angewiesen, die Funktionen übers Internet zu recherchieren. Der neue Pfadeffekt-Dialog beendet diese Malaise in überzeugender Weise, indem er nicht nur eine intuitive Benutzeroberfläche mit verschiedenen Ansichtsoptionen, inklusive Suchfunktion präsentiert, sondern auch schriftliche Informationen zu jedem einzelnen Effekt bereithält. Darüber hinaus zeigt der Dialog neben der deutschen Übersetzung auch den englischen Namen des Effekts an, um das Auffinden von – manchmal nur auf Englisch verfügbaren – Online-Tutorien zu erleichtern.

Auf Wiedersehen X11: Inkscape verhält sich auf dem Mac jetzt wie ein «natives» OS-X- Programm.

Mehr und bessere Werkzeuge

Die Beschreibung der verbesserten und neuen Werkzeuge würde ein Buch füllen, weshalb hier nur auf zwei besonders clevere Pfadeffekte hingewiesen werden soll, nämlich erstens die neuen Möglichkeiten zur Eckenrundung und Erzeugung von Fasen. Architekten und Ingenieure dürften sich zweitens über die DIN-gemässe Beschriftung gerader Linien freuen, die sich aber auch individuell anpassen lässt.

Gewinne und Verluste

Beim Import und Export von Dateien hat sich einiges getan, wobei nicht alles verbessert wurde. Manche Importfilter haben den Sprung auf Version 1.0 nicht überlebt, darunter diejenigen für ältere CorelDraw- und Illustrator-Dateien. Letztere kann man immerhin durch Umbenennen der Dateiendung von AI nach EPS für den Einsatz in Inkscape retten. Erfreulich ist hingegen eine ­Erweiterung des PDF-Imports, die es nun ­ermöglicht, Text in PDF-Dateien als solchen zu importieren und zu bearbeiten.

Beeindruckend sind die Importoptionen für SVG-Dateien, denn hier haben sich die Entwickler etwas Cleveres ausgedacht. Eine SVG-Grafik kann wie bisher als solche importiert werden. Darüber hinaus gibt es jetzt aber zwei weitere Optionen, nämlich erstens die Einbettung in eine bestehende Datei sowie zweitens die Verlinkung. In beiden Fällen werden die externen Dateien beinahe wie Pixelgrafiken behandelt, das heisst sie lassen sich nicht direkt bearbeiten.

Defizite

Trotz aller Verdienste weist Inkscape 1.0, nicht zuletzt aus der Sicht der Druckbranche, Defizite auf. Das Programm kann nur Farbpaletten im veralteten GPL-Format (sRGB) verwenden. Unterstützung für CMYK-, LAB- und Schmuckfarben ist weiterhin nicht in Sicht. Der PDF-Export wurde zwar verbessert, aber es ist immer noch nicht möglich, eine druckfertige PDF-Datei aus Inkscape zu exportieren.

Hinzu kommen einige Kinderkrankheiten, etwa das Problem, dass in der Windows-Version und auch auf einigen Linux-Distributionen der Eintrag «Zuletzt geöffnete Dateien» immer leer ist – eine nicht zu unterschätzende Einschränkung eines jeden Arbeitsablaufs.

Grafische Auswahl mit Informationen statt einfacher Textliste: der neue Pfadeffektdialog ist eine bedeutende Arbeitserleichterung.

Fazit

Inkscape 1.0 baut seine bekannten Stärken aus, während die alten Schwächen, gerade im Hinblick auf den Printbereich, weitgehend erhalten geblieben sind. Abgesehen vom unschlagbaren Preis von null Franken stehen auf der Habenseite die im Vergleich zu Illustrator bessere Bedienbarkeit und etliche innovative Funktionen. Wer Vektorgrafiken lediglich im sRGB-Farbraum erstellen muss, ist damit bestens bedient. Geht es aber an die Ausgabe für den Druck, ist man einstweilen gezwungen, Software von Drittanbietern hinzuzuziehen oder ein anderes Programm zu verwenden. 

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