Was bleibt

Corona bereitet uns die erste ernsthafte Krise, die zeigt, was ist, wie wir zusammen funktionieren, was Solidarität heisst. Der Bundesrat rief die ausserordentliche Lage aus, hebelte das Parlament aus, ein Lockdown wurde verhängt, Milliarden für die wirtschaftliche Schadensminimierung gesprochen. Die Auflistung liesse sich beliebig verlängern. Welche rigorosen Eingriffe der Staat uns Bürgern zumutete, ist etwas Einmaliges. Noch erstaunlicher ist, dass all diese Massnahmen grossmehrheitlich mitgetragen wurden und werden. Dies wohl deshalb, weil ein grosses Vertrauen in den bei uns funktionierenden Staat besteht und eine grosse Bedrohung über uns allen schwebt, die nur gemeinsam bewältigt werden kann. Viel Regulation und wenig Markt: hat doch ganz gut funktioniert!

Eines habe ich festgestellt: Das Regieren war erstmals prospektiv, man hat gemeinsam nach vorne geschaut und nicht nur reagiert. Es wurden unliebsame Entscheide getroffen – immer das Wohlergehen der Gesellschaft im Auge. Wirtschaft und Bevölkerung, Alt und Jung, müssen Federn lassen. Es geht halt jetzt in die Ferien statt nach Italien, Spanien oder Griechenland in die heimische Bergwelt, wo es sowieso schöner ist.

Ich wünsche mir, dass weises und vorausschauendes Regieren auch
in anderen Gebieten mehr Gewicht erhält. Wir stehen vor riesigen Herausforderungen: Umweltverschmutzung, Artensterben, Abfallberge, Digitalisierung, Energie, ungebremster Konsumismus, Bevölkerungsdichte, Mobilitätswahn, CO2-Fussabdruck und so weiter und so fort. Die Politik ist heute ein typisches Klientelsystem, in dem jeder nur für sich schaut. Die andern sind schuld, die andern sollen sich bewegen. An sich ist Meinungspluralismus ja erfreulich – wenn er aber dazu führt, dass Blockaden entstehen, kann nichts Neues oder Mutiges entstehen. Es muss erlaubt sein, auf neuem Gelände auch mal einen Fehler zu machen.

Mich beschleicht der Verdacht, dass es einen bösen Treiber im ganzen System gibt. Er heisst Wachstum. Wachstum kommt von Handels- und Niederlassungsfreiheit, Wachstum kommt vom ungebremsten Konsumismus, von Effizienz und Optimierung, Wachstum ist der Motor unseres Lebens. Wenigstens behaupten dies die Ökonomen. Wachstum, so wie wir es erlebt und angetrieben haben, hat immer eine hässliches Preisetikett. Es ist die Natur, die wir als kurzzeitige Gäste auf dieser Welt plündern. Wenn ich so überlege, sind dem Wachstum viele Nebenprobleme geschuldet: Das gierige Streben nach immer günstigeren Produkten führt in die Sackgasse, es kann nicht so weitergehen. Ich habe irgendwie ein ungutes Gefühl, dass die Welt vollends aus dem Ruder läuft. Wir definieren uns viel zu sehr über unseren Job und den errungenen Wohlstand. Wir messen und besteuern wie im industriellen Zeitalter noch immer das Einkommen und die Wertschöpfung. Was ist ein Fondsmanager wert, der über eine Software täglich Milliarden von Dollars verschiebt und sein Haus dabei Millionen verdient? Lebt es sich denn besser mit ein paar oder mit vielen Millionen Franken Vermögen? Ich habe den Eindruck, dass wir in dieser disruptiven Zeit die Arbeit (mit unseren Händen und Köpfen) anders bewerten, entgelten und besteuern sollten. Die Mehrwertsteuer muss eine Gesamtsicht auf die Wertschöpfung inklusive grauer Energie, Umwelteinflüssen und Entsorgung beinhalten. Die Transformation der industriell-handwerklichen in die digitale Gesellschaft kann nur erfolgreich stattfinden, wenn das Kapital alle Menschen finanziell breiter stützt. Die Wirtschaft ist für die Wohlfahrt und die Menschen da, nicht umgekehrt.

  • Autor Ralf Turtschi
    Ralf Turtschi ist Inhaber der R. Turtschi AG. Der Autor ist als Journalist und Fotoreporter für die Gewerbezeitung, unteres linkes Zürichseeufer und Sihltal, unterwegs. Er ist als Dozent beim zB. Zentrum Bildung, Baden,
    tätig, wo er im Diplomlehrgang Fotografie der Masterclass Fotografie und an der Höheren Fachschule für Fotografie unterrichtet.
  • Rubrik Kolumne
  • Dossier: Publisher 4-2020
  • Thema Dr. Pingelig, Ultimo

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