Upcycling im Graphikdesign: Ein oder mehrere Leben?

Upcycling ist ein Trendbegriff. 2013 haben ihn McDonough & Braungart mit ihrem Buch Intelligente Verschwendung – The Upcycle: Auf dem Weg in eine neue ­Überflussgesellschaft in die Populärkultur eingehen lassen. Dabei geht es bei dieser amerikanischen Version der «Vervollkommnung unseres Lebensstils» lediglich um ein uraltes und weitverbreitetes Phänomen: Bekanntlich macht Not erfinderisch. Dieser Mangel zeigt sich allerdings in vielen ­Facetten. Er kann ökonomischer Natur sein, auf dem Schwinden natürlicher Ressourcen beruhen oder sich in einem Identitäts­defizit gründen.


Rafael Morante, Filmplakat Muerte al Invasor, 1962, Siebdruck auf Zeitungspapier
Courtesy: Centro Studi Cartel Cubano – Venezia

1994 wurde Upcycling zum ersten Mal erwähnt. Der deutsche Bauingenieur Reiner Pilz kritisierte Recyclingverfahren von Baustoffen und forderte – statt des gängigen Downcyclings – Strategien der Wiederverwertung, die den Wert von Abfallprodukten nicht nur beibehalten, sondern steigern. Dabei stellt sich allerdings die Frage, welche Werte mit dem Verfahren des Upcylings  angestrebt werden sollen. Das Bewahren ökologischer Ressourcen und damit die Schonung der Umwelt – Schlagwort Nachhaltigkeit? Das Rückführen von aus dem Konsumverkehr ausgeschiedenen Produkten und damit Auftun neuer Marktnischen – Devise Gewinnmaximierung? Oder das Schaffen von in der Produktion sowie im Gebrauch identitätsstiftender Objekte – der Anspruch auf Kreativität? 
Mit einem Blick auf Graphikdesign soll es hier um das Erkennen und Sichtbarmachen von vorher ungesehenen Verbindungen und unbemerkten Potentialen vermeintlichen Mülls gehen, das von den Gestaltern nicht zwingend als Upcycling verstanden wurde.


Nelson Ponce, Casa Tomada, Veranstaltungsplakat der Casa de las Americas, 2009, Siebdruck auf bestehendem Plakat Courtesy: Casa de las Americas, Nelson Ponce


Mangel an Papier und Farben – Carteles Cubanos 
Im Januar 2013 war ich auf Feldforschung in Havanna mit der Absicht unterwegs, im gleichen Jahr eine Ausstellung über kubanische Filmplakate zu machen. Diese relativ kleinformatigen Poster geniessen ein grosses Renommee und gehen auf berühmte Graphiker wie Eduardo Munoz Bachs, Renée Azcuy und viele mehr zurück. Sie alle genossen feste Anstellungen mit monatlichen Gehältern am ICAIC (Instituto Cubano del Arte e Industria Cinematograficos). Während der Sechziger- und Siebzigerjahre, als die Sowjetunion die Film- und Plakatkunst in Kuba mit allen Kräften als geeignete Medien unterstützte, um die sozialistische Weltanschauung an das Volk zu tragen, stand die Produktion des Filminstituts auf dem Höhepunkt. Es wurden Plakate für inländische und ausländische Dokumentar- und Spielfilme geschaffen. Manchmal überschritt die Produktivität der Filmemacher die Kapazität der Graphiker. Sie hatten keine Zeit, die Filme zu sichten. Auf der Basis eines Titels oder einer Synopse schufen sie Plakate, welche die Filme ankündigen sollten. Diese wurden im Siebdruckverfahren vervielfältigt. Das Verhältnis zwischen Drucker und Graphiker war eng, da die Produktionstechnik das Design weitgehend bestimmte. Produziert werden konnte nur mit den Farben, die gerade verfügbar waren, und auf dem Papier, das der Serigraph, wenn überhaupt, gerade auf Lager hatte. In Perioden des Mangels druckte man sogar auf Zeitungspapier oder altem Karton und wertete damit Altpapier auf. 

Pepe Menéndez, Fünfzigjähriges Bestehen der Casa de las Americas, 2009, Offset
Courtesy: Casa de las Americas, Pepe Menéndez



Aktuell würde man diese Strategie als Upcycling bezeichnen, auch wenn sich die Gestalter mit diesem Konzept nicht identifizieren. Vielfarbigkeit und Papierqualität sind Symptome der wirtschaftlichen Lage, in der sich Kuba zum Zeitpunkt des Druckes befand. Die Kreativität und Qualität der Entwürfe litten allerdings weder an den Embargos noch am Zusammenbruch der Sowjetunion und auch heute müssen sich die jungen Graphikdesigner dem Materialmangel in einer Post-Castro-Ära stellen und schaffen beeindruckende Plakate. 

Mangel an Selbstbestimmung – August Walla, ein Künstler aus Gugging 
Die Künstler aus Gugging sind eine Gruppe psychiatrischer Patienten, die sich während der Siebzigerjahre unter ihrem behandelnden Arzt Leo Navratil zu den berühmtesten Exponenten der österreichischen Art Brut entwickelt haben. Im Rahmen meiner Dissertation betrieb ich während eines ganzen Jahres (1999/2000) Feldforschung in der Künstlerkolonie unweit von Wien. Leo Navratil beschrieb einen seiner Langzeitpatienten im Niederösterreichischen Landeskrankenhaus als Universalkünstler und fügte hinzu, dass August Walla je nach Kontext als psychiatrischer Fall oder als Genie zu betrachten sei. Er gehörte zu den wenigen Guggingern (wenn er nicht gar der einzige war), der aus eigenem Antrieb, allerdings ohne das Selbstverständnis eines Künstlers vorzugsweise ausserhalb der Anstalt, gestalterisch tätig war. Im Schrebergarten an der Donau häufte er ein Sammelsurium von weggeworfenen Gegenständen an, die er mit Emblemen und Schriftzeichen versah. Damit erhob er den Sperrmüll zu Trägern von für ihn bedeutungsvollen Zeichen. Diese Nachrichten an den Betrachter hielt er photographisch fest. Sogar die Fassade und den Innenraum des Gartenhäuschens gestaltete er auf diese Weise, genau wie Bäume und Asphaltstrassen. 


Nelson Ponce, Ausstellungsplakat, CACa en el taller, 2012, Siebdruck mit einem Gemisch aus Farben vorheriger Druckprozesse


Wallas Tätigkeitsbereich umfasste ein breites Spektrum. Er schrieb und zeichnete viel. In einem Entrümpelungsbetrieb rettete er Wörterbücher verschiedenster Sprachen vor dem Wegwerfen, setzte gefundene Worte zusammen, modifizierte sie und bildete damit eine eigene Sprache. Ein horror vacui, eine Angst vor der Leere, kennzeichnet sein gestalterisches Werk. Bemerkenswert ist, dass der «Ausnahmegraphiker» auch noch nach jahrzehntelangem Aufenthalt in der Nervenklinik und kontinuierlicher Behandlung mit Psychopharmaka sensibel die Geschehnisse seiner nächsten Umgebung in seinen Arbeiten widerspiegelte. Zeichnerisch hält er Erlebnisse oder Erinnerungen fest. Auf der Rückseite benennt er schriftlich den Auftraggeber und den Zweck seiner Arbeit. Er lässt es sich auch nicht nehmen, sein Honorar für die Gestaltung gleich mit anzugeben. 

Giselle Monzón, Filmplakat, Para Poeta Cego, 2012, Siebdruck mit einem Gemisch aus Farben vorheriger Druckprozessen



In der Psychiatrie wird Psychose mit Realitätsverlust in Zusammenhang gebracht. In Prozessen der Wiederherstellung oder der Selbstheilung verwandelte Walla das Chaos, in das ihn sein psychischer Zustand geworfen hatte, in eine kulturelle Leistung. Seinem Psychiater Leo Navratil gelang es mithilfe zeitgenössischer Künstler, von seinen Patienten in kunsttherapeutischen Sitzungen hergestellte Gestaltungsprodukte zu hochpreisiger Kunst zu erheben. 1990 ging der renommierte Oskar-Kokoschka-Preis an die Künstler aus Gugging, womit sie in einer Reihe mit Ilya Kabakov (2002) und William Kentridge (2008) stehen.  


Mangel an Repräsentationskraft – Eine Arbeitsskizze als Ausstellungsplakat 
Von Oktober 2009 bis Juni 2010 zeigte das Ethnografische Museum Genf eine Ausstellung zu sowjetischer Alltagskultur in einer Villa im Stadtviertel Conches. Als Kuratorin der europäischen Sammlung wurde mir eine Reihe sowjetischer Gegenstände verschiedener Epochen anvertraut, die ohne jegliche Dokumentation 2008 vom Museum angekauft worden war. Mangels Zeit und Ressourcen für eine gründliche Erforschung der Objekte entschied ich mich, in der Ausstellung Villa Sovietica den Schwerpunkt auf den Gegenstand des Wissens, den eine museale Institution dem Besucher vermitteln kann, zu legen. Nicht das Erklären einer ganzen Kultur samt ihrer Geschichte war mir ein Anliegen. Vielmehr wollte ich der Frage nachgehen, was es zu bedeuten hat, wenn ein Schweizer Museum Alltagsgegenstände einer anderen Kultur in ihren Besitz nimmt und einen Diskurs über diese Objektgruppe führt. Daher machte ich Villa Sovietica mehr zu einer Ausstellung über das Ausstellen und Sammeln als zu einem didaktischen Versuch, dem Museumsbesucher den Homo Sovieticus zu erklären.

Plakat zur Ausstellung Villa Sovietica im MEG, 2009, Séverine Mailler



In Zusammenarbeit mit Künstlern, Gestaltern und Wissenschaftlern aus post-sowjetischen Teil- und Satellitenstaaten entstand eine Installation über vier Etagen, die sich mit verschiedenen Themen der Musealisierung beschäftigte: Dinge als Wissensträger, privates und institutionelles Sammeln, anthropologische Perspektiven auf das Ausstellen kulturfremder Objekte und ästhetische Prinzipien des Ausstellens. 

So wurden zum Beispiel im Keller der Villa sowjetische Alltagsgegenstände bunt gemischt mit Objekten der europäischen Sammlung und Hausrat aus den Abfallcontainern der Genfer Emmaüs-Verkaufsstellen präsentiert. Den Besuchern wurde zur Aufgabe, die Besonderheit der Sowjet-Gegenstände, die so charakteristisch für diese Kultur sein sollten, zu identifizieren. Nur wenige Ausstellungsstücke wurden vom Publikum als nicht eigen erkannt. 
Als nun die Graphikdesignerin Séverine Mailler beauftragt wurde, die visuelle Kommunikation und den Katalog zur Ausstellung zu gestalten, entstand das Problem, ein Objekt zu finden, das alle anderen Objekte in der Ausstellung repräsentieren könne. Viele Ausstellungsplakate zeigen das Herzstück einer Sammlung – das «Meisterobjekt», das alle anderen in sich zusammenfasst. 
Nachdem meine kuratorische These die Repräsentationskraft von Ausstellungsobjekten jedoch hinterfragte und in spezifischer Hinsicht sogar ausschloss, musste die Graphikdesignerin auf anderes Bildmaterial zurückgreifen. Mailler schuf ein Logo, das die Architektur der Villa in Conches aufnahm und bediente sich einer meiner Arbeitsskizzen, die ich dazu verwendete, meinen zahlreichen Mitarbeitern das räumliche Konzept der Ausstellung zu verdeutlichen. Die Photokopie eines Gebäudeplans im Aufriss, auf die ich mit Filzstiften Gedankennotizen gekritzelt hatte, um im Prozess des Ausstellungsmachens zu kommunizieren, wurde zu einem tragenden Element des Plakats aufgewertet. Somit landete sie nicht nutzlos im Altpapier, sondern erhielt ein zweites Leben. Als Upcycling hätte Séverine Mailler ihr Vorgehen, das einer gestalterischen Logik entsprang, in erster Instanz wohl nicht verstanden. Allerdings kann man es nachträglich im Licht des aktuellen Nachhaltigkeitstrends als solches Verstehen. 



Mangel an Gestaltungsqualität – Eine Ausstellung mit den schlechtesten Plakaten der Saison 
Plakate sind ein flüchtiges Medium. Sie verbreiten Aussagen zu aktuellen Ideologien, Produkten oder Anlässen als Nachricht im öffentlichen Raum und verschwinden dann wieder. Sie überleben ihre Zeit nur in Sammlungen oder Archiven. Die Plakatsammlung der Schule für Gestaltung Basel konzentrierte ihre Sammlungstätigkeit von 2010 bis 2018 territorial auf die Nordwestschweiz und inhaltlich auf Plakate, die kulturelle Veranstaltung bewarben. Auf dem Weg der APG-Auswahlen gelangten jährlich unzählige Schweizer Plakate in die Sammlung. Was aber, wenn nicht alle Neugewinne den Qualitätskriterien einer institutionellen Sammlung entsprechen? Sie werden einfach nicht in die Bestände aufgenommen. Sie landen im Altpapiercontainer.
Kreativität und Sorgfalt leiden am rasenden Tempo der Gestaltungs- und Produktionsprozesse, die optimiert werden müssen. Die Prozesse sind kostensparend, die Resultate schlecht. Als Kuratorin der Plakatsammlung in Basel nahm ich diesen Umstand 2012 zum Anlass, die Plakate mangelnder Qualität, die nicht für die Zukunft aufbewahrt werden sollten, in einer Ausstellung zu zeigen. Ich beabsichtigte, den Blick und das Qualitätsurteil des Publikums zu schärfen. Es sollte mit sensibilisiertem Bewusstsein die Plakatlandschaft im öffentlichen Raum betrachten und sich über die visuelle Vermüllung Gedanken machen. Am Ende der Ausstellungslaufzeit wurden die kleinen Räume, die jeweils nur ein Plakat beherbergten, abgerissen. Der so entstandene Bauschutt diente als Träger für die Ausstellungsstücke, die ich als Symptome von Vergeudung thematisierte: Verschwendung von Papier, Druckfarbe, Technologie, Können und Zeit. Auf diese Weise schuf ich zwar aus Abfall ein kulturelles Phänomen, eine Ausstellung, aber leider wurde das Wegwerfen der Plakate und des Bauschutts nur hinausgezögert. Sie durchlebten ein zweites beziehungsweise drittes Leben. Nur den Photos der Installation ist in Archiven ein potenziell dauerhaftes Leben gewährt.


August Walla, Würfelspiel, 2000, Feldforschungs­archiv Alexandra Schüssler



Warnung vor Atrophie in der Gestaltung  
Der Ausspruch «weniger ist mehr» geht auf den Bauhaus-Architekten und -Gestalter Ludwig Mies van der Rohe zurück. Damit brachte er seine Abkehr von exzessiver Ornamentik in der Gestaltung zum Ausdruck. Nüchternheit im Design war in seinen Augen erstrebenswert. Aktuell wird in neopuritanischer Geisteshaltung die Devise «less is more» gefeiert. Hinter der schicken und politisch korrekten Verzichtgesellschaft, die Genuss einer finanzstarken Schicht vorbehält, nämlich einer, die sich einen aus Kaffeekapseln upgecycelten Kugelschreiber einer renommierten Schweizer Marke leisten kann, anstatt mit billigen Plastik-Kulis zu schreiben, vermutet der österreichische Philosoph Robert Pfaller eine gerissene Strategie. In seinen Augen soll diese von sozialen Differenzen ablenken und Kapitalkonzentration und damit verbundene Negativfolgen für die Gesellschaft vorantreiben. Denn in dieser Perspektive sind die Armen nicht nur arm, sondern verkörpern auch das neue Böse, weil sie billige Wegwerfprodukte auf Kosten von Klima und Umwelt konsumieren. Pfaller plädiert für ein gutes Leben im Überfluss für alle und eine Bereitschaft, die Möglichkeiten und Grenzen zu diskutieren. Aber was bedeutet das für Graphikdesigner?

Philipp Möckli vom Basler Studio Début Début gab mir auf diese Frage eine klare Antwort: «Als Graphiker sehe ich es als meine Aufgabe, Qualität zu schaffen, die man nicht wegwerfen will. Form kontextualisiert Inhalte nicht nur, sondern sie konserviert sie auch.  Anstatt mehrere Leben durch Re- oder Upcycling zu durchlaufen, sollte gute Gestaltung den Anspruch auf ein schier ewiges Leben verfolgen. Wenn nicht als tatsächlich zeitbeständiges Produkt, so soll sie wenigstens als Zeitzeuge überleben. Ich möchte Design schaffen, das nie im Müll landet.»



Ausstellung WASTED, Ausstellungs­ raum auf der Lyss, SfG Basel, 2012 Photo: Patrick Baumann

Alexandra Schüssler ist Kulturanthropologin, Kuratorin und Ausstellungsgestalterin. Wissenschaftliche Inhalte setzt sie in multisensorische Installationen um. Sie leitete die europäische Sammlung im Musée d’ethnographie Genève und gehörte dem zweiköpfigen Leitungsteam der Plakatsammlung der Schule für Gestaltung Basel an. Neben internationaler Ausstellungstätigkeit doziert sie an Universitäten und Hochschulen in den Niederlanden und der Schweiz. ­alexandraschuessler.com

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