Kleine Nummer, grosser Wurf

Inkscape ist besser durch die Pandemie gekommen als andere freie Software-Projekte und bietet mit Version 1.1 eine grosse Fülle an Neuerungen und Verbesserungen. Wir werfen einen Blick auf die bedeutendsten Änderungen.

Wie viele andere freie Softwareprojekte ist Inkscape einerseits äusserst innovativ, hat aber andererseits Aufholbedarf im Vergleich zur kommerziellen Konkurrenz. Die aktuelle Version 1.1 zeigt dies in aller Deutlichkeit.

Herzlich willkommen & Co.
Der neue Startdialog wäre nicht der Rede wert, hätte er nicht zu den etablierten Standards anderer Programme aufgeschlossen und diese sogar übertroffen. Konkret bedeutet dies, dass man im Willkommensdialog nicht nur das Aussehen der Benutzeroberfläche für die aktuelle Sitzung festlegen kann, sondern auch, welche Art von Dokument man erzeugen möchte. Inkscape bietet hierzu eine reichhaltige Sammlung an Vorlagen, darunter für Druck, Video und Social Media. Leider aber gibt es keine Möglichkeit, eine massgeschneiderte Datei anzufertigen. Ein Klick auf Datei > Neu übernimmt einfach die Standardvorgabe, was oft nicht im Sinne der Anwender sein dürfte, denn hier würde man zusätzlich einen Einstellungsdialog erwarten.

Der neue Startbildschirm mit den Schnelleinrichtungsoptionen

Flexiblere Oberfläche
In Inkscape 1.1 ist es jetzt möglich, die Werkzeugeinstellungen aus der Palette am rechten Bildschirmrand herauszulösen und sie alternativ am linken einrasten zu lassen. Dort kann man, ebenso wie am ursprünglichen Ort, auch neue Werkzeuggruppen zusammenstellen. Weiterhin kann man die Werkzeugeinstellungen auch vom Anwendungsfenster lösen und freischwebende Optionspaletten zusammenstellen.

Frühere Inkscape-Versionen konnte man zu Recht für den «Gedächtnisverlust» bezüglich der Einstellungen der Benutzeroberfläche kritisieren. Mit der aktuellen Version ist das Thema jedoch weitgehend erledigt, denn das Programm speichert jetzt die Positionen der Dialoge und stellt sie beim Neustart wieder her.

Die neue Benutzeroberfläche mit links und rechts angedockten Werkzeugoptionen.

Eingebaute Suchmaschinen
Wie viele andere Programme verfügt Inkscape 1.1. nun über eine Stichwortsuche zu gewünschten Operationen. Das war angesichts des mittlerweile erreichten Funktionsumfangs gewissermassen unvermeidlich. Um diese zu aktivieren, muss man über die Tastatur ? eingeben. Was die allgemeinen Programmeinstellungen betrifft, kann man im Dialog Bearbeiten > Einstellungen ebenfalls gezielt mit Stichwörtern nach ­Optionen suchen.

Noch mehr Bedienkomfort
Die Inkscape-Entwickler haben ihr Programm in vielen Details verbessert. So wird eine Kopie aus der Zwischenablage jetzt ­direkt über dem zuletzt ausgewählten Objekt eingefügt und nicht mehr als oberstes Element in der Objekthierarchie. Ausserdem ist ein neuer Vorschaumodus namens Konturen überlagern hinzugekommen, in dem sowohl die Umrisse als auch eine verblasste Vorschau der Füllungen zu sehen ist. Der Grad der Durchsichtigkeit lässt sich einstellen.

Darüber hinaus haben die Freiwilligen viel Zeit in kleine Details, wie etwa das Aussehen von Anfassern und Symbolen sowie die bessere Wiedergabe auf HiDPI-Bildschirmen investiert. Eine grosse Arbeitserleichterung ist auch die Möglichkeit, im Filtereditor alle ­Objekte auszuwählen, auf die ein bestimmter Filter angewandt wurde.

Der Filtereditor mit der äusserst nützlichen Option zum Auswählen von Objekten nach dem Status der Filteranwendung.

Grafiken aus Textdateien
Inkscapes natives Dateiformat ist der offene Standard SVG, auch wenn das Programm einige Erweiterungen verwendet, die vom w3c-Konsortium noch nicht abgesegnet worden sind. Da es sich bei SVG um XML-Dateien handelt, kann man Grafiken in diesem Format auch mit einem Text-Editor anfertigen oder in einem automatisierten Workflow als Text erzeugen lassen. Inkscape bot schon bisher die Möglichkeit, SVG-Dateien im Quelltext zu bearbeiten. Ab Version 1.1 lassen sich nun auch reine Textdateien, sofern diese standardkonform sind, als Grafikobjekte aus der Zwischen­ablage einfügen.

Knoten- und andere Magie
Inkscape 1.1 bietet zahlreiche Neuerungen und Verbesserungen für die kreative Arbeit. Höhepunkt ist wohl die Möglichkeit, mit dem Lasso einzelne Knotenpunkte eines Pfades auszuwählen und die Auswahl anschliessend zu kopieren oder auszuschneiden. Mit dem neuen «Sektor»-Pfadeffekt kann man jetzt kinderleicht geschlossene Pfade beliebig auseinanderschneiden. Für die tägliche Arbeit ist es vielleicht am bedeutsamsten, dass die Booleschen Operationen in den Pfadeffekten nunmehr als stabil und nicht mehr als experimentell eingestuft werden. Letztere darf man nicht mit den «normalen» Booleschen Operationen verwechseln, die seit Jahren zuverlässig funktionieren.

Geklonte Objekte behalten jetzt die Füllung für Konturen, und der Filter Schnelles Freistellen erlaubt die zügige Auswahl von einzelnen Objekten oder einer kompletten Grafik mit wenigen Mausoperationen.
Ein Fortschritt ist die Unterstützung für Haarlinien, auch wenn Inkscape sich hier einstweilen mit einer Krücke behilft, weil SVG im Gegensatz zu PDF keine «echten» Haarlinien vorsieht. Die Krücke besteht darin, grundsätzlich eine Konturbreite von einem Pixel zu verwenden.

Der «Sektor»-Pfadfilter im Einsatz.

Ungelehrte Belehrung
Der Export in verbreitete Pixelformate aus Inkscape hat eine lange und an Glaubenskämpfe erinnernde Geschichte hinter sich. Die «reine Lehre» verlangte die Ausgabe ausschliesslich nach PNG, das zugegebenermassen für Rasterversionen von Vektorgrafiken sehr gut geeignet ist. In Version 1.1 sind die Entwickler endlich über ihren eigenen Schatten gesprungen und haben zusätzlich den Export nach TIFF, JPEG und WebP implementiert. Die Ausgabeoptionen sind nicht so umfangreich wie in einem Bildbearbeitungsprogramm, aber ausreichend.

Überflüssigerweise wird man vor dem Export nach JPEG jedesmal mit einem Sermon der Hohepriester alter Schule über die Nachteile dieses Formats konfrontiert. Das ist nicht sehr professionell, denn Profis sollten wissen, welches Format für einen bestimmten Ausgabezweck geeignet ist.

In Sachen PDF-Export für den Druck hat sich leider immer noch nichts getan, und das Farbmanagement beschränkt sich auf die Ausgabesimulation am Bildschirm. Intern arbeitet Inkscape nach wie vor mit sRGB und erlaubt nicht einmal die Verwendung von im SVG-Standard vorgesehenen Alternativen für Prozess- und Schmuckfarben, sodass man hier auf Software von Drittanbietern angewiesen ist.

Eine Vektorgrafik im neuen Vorschaumodus «Konturen überlagern».

Kummerkind Windows
Wie in der Vergangenheit ziehen Windows-Anwender mit Inkscape in manchen Details den kürzeren. Das ist schwer verständlich, denn die grösste Inkscape-Anwendergruppe nutzt dieses Betriebssystem. Nachdem der Fehler in Sachen zuletzt geöffneter Dateien (leere Liste) behoben worden ist, wiederholt das Team denselben im neuen Startdialog. Darüber hinaus erfordern die neuen Docking-Optionen unter Windows deutlich mehr Geduld und Übung als unter macOS und Linux.

Viel Licht und etwas Schatten auf dem Mac
Probleme anderer Open-Source-Projekte mit neueren macOS-Versionen konnten die Entwickler überwinden. Vor allem ist hier die Unterstützung für Python 3 zu nennen, das von Apple ignoriert wird, für die meisten Inkscape-Erweiterungen aber unverzichtbar ist. Deshalb haben die Programmierer kurzerhand eine massgeschneiderte Python-3-Version erzeugt, die zusammen mit Inkscape 1.1 installiert wird. Ausserdem kommen Apple-Kunden jetzt in den Genuss des leistungsfähigen MS-Visio-Importfilters.

Der Verlust des (E)PS- und PDF-Imports von Haus aus muss hingegen als grosses Manko verbucht werden. Um diese Importoptionen zu reaktivieren, ist es erforderlich, Ghostscript separat herunterzuladen und es mit einem kurzen Terminal-Befehl in Inkscape zu aktivieren. Zudem funktioniert die Rechtschreibprüfung in der Mac-Version nicht.

Fazit
Inkscape 1.1 ist ein gelungenes und grosses Update eines führenden Libre-Graphics-Projekts. Viele Kritikpunkte von Illustrator-Anwendern wurden berücksichtigt. Darüber hinaus waren die Entwickler wieder einmal erfinderisch und haben mit ihren Neuerungen die Arbeit deutlich erleichtert. Dies betrifft nicht nur Arbeitsabläufe, denn die Geschwindigkeit des Programms auch auf schwächerer Hardware und sogar auf 32-Bit-Systemen ist beeindruckend. Wenn es den blinden Fleck bei Farben und Druck nicht gäbe, könnte man es fast uneingeschränkt empfehlen. 

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