Text- und Bildkompetenz

Kolumne von Ralf Turtschi

Eine neue Zeit. Kleinkinder wissen mit dem Touchscreen umzugehen und erstellen Fotos, Sprachnachrichten oder Clips in grösster Selbstverständlichkeit. Oft sprechen sie astreines Hochdeutsch, bevor sie das Schulalter erreichen. Kürzlich wollte bei einer Familienfeier die sechsjährige Grossnichte mit meiner Kamera Fotos schiessen, was sie dann auch erfolgreich tat – bis sie das Gewicht nicht mehr halten konnte. Die Digitalisierung ermöglicht es allen, mit Leichtigkeit Fotos zu machen und sie mit der Welt zu teilen. Das Handling zur Bilderfassung ist Allgemeingut geworden.

Im Textbereich emotionalisieren Jugendliche ihre Kurznachrichten mit Emojis. Sie können leichter damit umgehen als einen grammatisch und stilistisch korrekten Text zu formulieren. Emojis vermögen Texte zu ironisieren oder zu entschärfen. Es geht hier nicht um die komplexe Anwendung der deutschen Sprache mit all ihren Ausnahmen und Spitzfindigkeiten, sondern um eine einfache Sprachkompetenz.

Der Schweizer Dachverband Lesen und Schreiben postuliert, dass rund 800 000 Menschen in der Schweiz grosse Mühe mit Lesen und Schreiben bekunden, trotz neun Schuljahren – das betrifft rund jede sechste Person! Wie sollen solche Menschen Webseiten, Zeitungen, Magazine oder Bücher lesen, eine Speisekarte erkunden, eine Busverbindung heraussuchen oder sich in Pandemiefragen schlau machen? Was passiert mit der Welt, dem Klima, der Demokratie, wenn die nächste Generation mit Wortfetzen und Emojis kommuniziert? Tut sich gerade ein Graben auf zwischen den Wissenden und den Unwissenden, den Ungläubigen und den Gäubigen, dem Wir-Lager und den Gegnern? Ist Sprachkompetenz in Wort und Schrift eine Schlüsselkompetenz für die Welt der mündigen Bürgerinnen und Bürger? Oder ist alles halb so wild?

Auch bezüglich Bildkompetenz liegt vieles im Argen. Während beim Text Fakenews mit Faktenchecks überprüft werden können, entlässt die Medienwelt Bilder weitgehend ungeprüft. Dabei ist die Einflussnahme auf Fotos riesig, von der naiven Bildoptimierung bis hin zur arglistigen Täuschung. Ob ein Bild nun authentisch ist, einen fiesen Ausschnitt zeigt oder mit aufwendiger Bildbearbeitung auf eine finale Aussage getrimmt wurde, wird von der Empfängerseite einfach so hingenommen und nicht hinterfragt.

Bildkompetenz gehört in die Grundbildung, ähnlich wie das kleine Einmaleins oder das Erlernen des Alphabets. Wie Bilder gelesen werden, wie sie im Hirn wirken und was sie auslösen, hat selbst bis zu den Hochschulen schlicht keinen Platz im Lehrplan. Erstaunlich, wenn im Matheunterricht Logarithmus, Integral- und Differenzialrechnungen gepaukt werden, während kein Mensch eine Ahnung hat, was passiert, wenn in einem Webshop die grossen Prozentzeichen locken. Oder wenn Läden wie IKEA nach einem bestimmten Muster aufgebaut werden, um gezielt Kaufreflexe auszulösen.

Ich denke darüber nach, ob der exzessive Internetkonsum das virtuelle Rauschverhalten fördert und den Menschen immer mehr die Bodenhaftung unter den Füssen wegzieht. Der Gewinn von Followern und Likes geht einher mit dem Verlust von richtigen Freunden und der realen Welt. Wenige Techgiganten sind verantwortlich für die Freuden und Leiden, auf die sich unsere Gesellschaft zubewegt. Wir verzeichen eine gewaltige Zunahme von Essstörungen, sozialen Phobien, Depressionen, selbstverletzendem Verhalten, Angstörungen oder Suizidalität bei Minderjährigen. Natürlich ist es gewagt, Kommunikationskompetenz als Ursache für viele Probleme anzuprangern – aber es gibt mir zu denken.

  • Autor Ralf Turtschi
    Ralf Turtschi ist Inhaber der R. Turtschi AG. Der Autor ist als Journalist und Fotoreporter für die Gewerbezeitung, unteres linkes Zürichseeufer und Sihltal, unterwegs. Er ist als Dozent beim zB. Zentrum Bildung, Baden,
    tätig, wo er im Diplomlehrgang Fotografie der Masterclass Fotografie und an der Höheren Fachschule für Fotografie unterrichtet.
  • Rubrik Kolumne
  • Dossier: Publisher 1-2022
  • Thema Kolumne

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