Wörter zwischen Wiege und Grab

Warum und wie genau ändert sich unsere Sprache eigentlich? Der PUBLISHER ist dieser Frage gemeinsam mit einem Linguistik-Professor auf den Grund gegangen.

Bist du mit dem Begriff «Pandemials» vertraut? Hattest du beim Zoom-Meeting mit «Cam-Shaming» zu kämpfen? Oder bist du auch schon in ein «Technäpfchen» getreten? Wenn es um Wortneuschöpfungen geht, ist unsere Welt mit einer nie stillstehenden, ungemein kreativen Produktionsmaschine zu vergleichen, die regelmässig neue Begrifflichkeiten und Ausdrücke zu Tage fördert. Das mag auf den ersten Blick unnötig erscheinen und einer weiteren, wie manche beklagen, «Verhunzung der Sprache» gleichkommen. Aber – wie wir später sehen werden – ist es ein natürlicher und vielfach notwendiger Vorgang.

Bei den oben genannten Erwähnungen handelt es sich nicht etwa um Ideen, die der blossen Langeweile eines Linguisten-Konsortiums oder nach einer durchzechten Nacht den Hirnströmen eines Trunkenbolds entsprungen sind: «Pandemials», «Cam-Shaming» und «Technäpfchen» sind einige der für 2022 angedachten Trendwörter, die das Deutsche Zukunftsinstitut im Rahmen des «Trendreports 2022» veröffentlicht hat. Mit «Pandemials» wird beispielsweise die Nachfolgegeneration der Millennials und der Gen Z bezeichnet – eine Alterskohorte, die vom Corona-Virus und den damit einhergehenden Einschränkungen wie gesellschaftlichen Veränderungen besonders geprägt wird. 

Im Laufe der Zeit
Dass sich der Sprachduktus stetig ändert – also neue Wörter, orthografische Regeln, Laute und Satzstrukturen den Weg in den Wortschatz finden, während alte in den Ruhestand versetzt werden – ist selbstredend keine neue Erscheinung. Wie sehr sich die deutsche Sprache binnen der letzten Jahrhunderte verändert hat, wird beim Blick auf ein altdeutsches Gebet, das ungefähr aus dem Jahre 825 n. Chr. stammt, deutlich: «si giheilagot thin namo, queme thin rihhi, si thin willo, so her in himile ist, so si her in erdu.» Man kann mit viel Fantasie und ein wenig Knobeln erahnen, wie diese Fürbitte im heutigen Hochdeutsch klingen mag: «Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, auf Erden wie im Himmel.» 

Um Belege für die Veränderung von Ausdrücken und dem Sprachfluss zu finden, müssen wir aber gar nicht so weit zurückblicken. Innerhalb der heutigen DACH-Region gibt es einige Bezeichnungen, die in ihrer ursprünglichen Form kaum mehr bestehen und von den jüngeren Semestern wohl gar nicht mehr zugeordnet werden könnten: Vorbei scheinen die Zeiten, in denen mit «Dreikäsehoch» ein aufmüpfiger Knirps bezeichnet wurde, der pelzige, zähnebleckende Vierbeiner aus überraschend düsteren Märchen als «Isegrim» bekannt war oder ein unverhältnismässiges Gehabe als «Brimborium» abgetan wurde.

Von akkuraten Ausdrücken
Zurück ins Hier und Heute: In eine dynamische und schnelle Welt, die wie erwähnt und unter anderem dank technologischem Fortschritt wunderbar regelmässig neue Dienstleistungen, Produkte, gesellschaftliche Phänomene zum Vorschein bringt – und für diese neuartigen Ereignisse und Artikel natürlich auch passende Ausdrücke benötigt. Um das zu veranschaulichen, ziehen wir einen weiteren Trendbegriff zur Rate.  Das «Finsta»-Profil resp. «Finstagram» bezeichnet eine gerade unter Teenagern sehr beliebte Erscheinung ungemein akkurat: Bei Finsta (Kofferwort aus «Fake» und «Instagram») geht es darum, sich auf den sozialen Medien möglichst echt und authentisch – als Gegenentwurf zur meist übertriebenen Selbstdarstellung auf Instagram und Co. – zu zeigen. Diesen Begriff mit dem bestehenden deutschen Vokabular prägnant und genau zu beschreiben, wäre um ein Vielfaches herausfordernder – und damit ein weiteres Argument für die Verwendung von neuartigen Ausdrücken.  

Die Rolle der Jugend
Am permanenten Wandel der Sprache hält wenig überraschend auch die Riege der Jungen und Junggebliebenen grosse Aktien: Zwei weitere Trendbegriffe aus der Liste des Zukunftsinstitut, «Linkedin-Flex» und «Festalgie», beschreiben die Charakterzüge der Jugendsprache sehr passend. Mit der «Festalgie», einer Wortzusammensetzung aus Fest und Nostalgie, wird etwa die coronabedingte Sehnsucht nach Partys und Sorglosigkeit bezeichnet – mit einer guten Portion Humor. «LinkendIn-Flex» hingegen dröselt, nicht ohne ironischen Unterton, das Phänomen der übertriebenen Selbstgefälligkeit und des Eigenlobs gewisser Nutzer des Business-Networks auf. 

Mit seinen scherzhaften und provokanten Komponenten zielt die Sprache der Adoleszenten vor allem darauf ab, sich von anderen Gruppen – gerade der Elterngeneration – abzugrenzen und so eine eigene Identität zu schaffen.

Und dann wären da noch die Fremdsprachen – vor allem Anglizismen – welche die Jugend und deren Kommunikation beeinflussen. Als Alterskohorte, die sich in den meisten Fällen zu den «Digital Natives» zählen kann und den intensivsten Zugang zum englisch-dominierten Tech-Kosmos hat, überrascht es kaum, dass Ausdrücke aus dem angelsächsischen Raum täglich Brot in der Sprachwelt der jungen Hüpfer sind. Das zeigt sich auch bei jenen Begriffen, die 2021 das Rennen um das Jugendwort des Jahres gemacht haben: Zuoberst auf dem Treppchen steht etwa «cringe» – im Deutschen etwa gleichzusetzen mit «Fremdscham» oder «peinlich». Auf Plätzen zwei und drei des Votings folgen mit «sus» und «sheesh» ebenfalls Begrifflichkeiten, die ihren Ursprung in der englischen Sprache haben.

Kommunikation für alle
Der Sprachwandel, bei welchem im 15. und 16. Jahrhundert übrigens gerade Druckereien eine grosse Rolle spielten (siehe Box), wird natürlich nicht bloss von der jungen Gesellschaftsschicht vorangetrieben. Die Veränderung der Öffentlichkeit als ganzes ist einer der grössten Treiber des Sprachwandel-Phänomens. In einer zunehmend aufgeschlossenen und progressiven Allgemeinheit ist es deshalb wenig überraschend, dass inklusivere und korrekte Sprache zusehends mehr Raum einnimmt. Das äussert sich zum Beispiel durch Stilmittel wie Euphemismen (korpulent anstelle dick, für immer eingeschlafen statt gestorben), die aktuell hitzig diskutierten Gendersternchen- oder Doppelpunkte-Debatte oder auch die endgültige Tilgung gewisser derber, verletzender oder abschätziger – aber früher leider akzeptierten – Ausdrücke aus dem Wortschatz. 

Nichts ist für immer
Es zeigt sich: Wenn wir als Gesellschaft weiterhin dynamisch agieren, ist damit zu rechnen, dass unsere Sprache auch in Zukunft nicht stillsteht und sich konsequent weiter wandelt. Auf einige Begriffe wartet damit wohl die baldige «Pensionierung» – schlimmstenfalls das Buchstaben-Nirwana. Alleine 2020 wurden rund 300 Wörter, darunter «Aufgebotsschein» oder «Fernsprechanschluss», aus dem Duden entfernt. Wer althergebrachten Begriffen nachtrauert, dem sei hiermit Mut zugesprochen. Denn genau wie Modetrends kommen und gehen, sind die Ausdrücke, die nun friedlich ruhen, vielleicht auf einmal wieder en vogue.

Interview mit Prof. Dr. Noah Bubenhofer
PUBLISHER: Von welchen Faktoren wird der sprachliche Wandel beeinflusst? Haben sich diese Einflussgrössen im Laufe der Jahre geändert oder sind das immer noch in etwa dieselben?

Prof. Dr. Noah Bubenhofer: Die wichtigsten Faktoren für sprachlichen Wandel sind Veränderungen der Medien, der Gesellschaft und der Kultur: Der Buchdruck oder das Internet, Migrationsbewegungen oder ein sich verändernder Zeitgeist sind Beispiele dafür. 

PUBLISHER: Kommt einem dieser Faktoren eine besonders hohe Wichtigkeit zu?

Bubenhofer: Nein. Es ist die Komplexität all dieser Einflussgrössen, die zu sprachlichen Veränderungen führt. Zudem ist Sprachwandel ein sog. «invisible hand»-Prozess: Wir alle sind dafür verantwortlich – aber nicht so, dass wir individuell den Wandlungsprozess in eine bestimmte Richtung bewegen könnten. Es ist wie ein Trampelpfad, den eigentlich niemand bewusst anlegen will, der sich aber ergibt, indem die Menschen auf eine bestimmte Art handeln.

PUBLISHER: Warum nutzen sich gewisse Wörter mit der Zeit ab?

Bubenhofer: Ich würde nicht von «Abnutzen» sprechen, sondern von einem semantischen Wandel, dem alle Wörter unterworfen sind. Als Beispiel: «Geil» bedeutete auf Alt- und Mittelhochdeutsch noch «übermütig» oder «lustig», erhielt später eine sexuelle Konnotation, wurde zum provozierenden Jugendwort und ist heute ein schon fast neutraler Ausdruck für Begeisterung.

Wörter stehen nicht in einer festen Beziehung zum «Referenten», zum Gemeinten, sondern zeigen im Gebrauch von Sprache typische Verwendungsweisen, die wir dann als Bedeutung wahrnehmen. Als Sprecher beobachte ich, wie Begriffe verwendet werden, orientiere mich daran und imitiere das. Gleichzeitig sind wir jedoch kreativ und verwenden Wörter immer mal wieder ein bisschen anders oder haben das Bedürfnis, neue Sachverhalte oder Dinge zu benennen. Damit kann ein Sprachwandel angestossen werden.

PUBLISHER: Wie haben Anglizismen (oder allgemein Entlehnungen aus fremden Sprachen) den Weg in unsere deutsche Sprache gefunden? Seit wann ist das (verbreitet) so?

Bubenhofer: Der Einfluss von «Fremdwörtern» in eine Sprache ist wahrscheinlich so alt, wie die Sprachen selber. Ohne diese Beeinflussungen würden sich Sprachen nicht wandeln und würden aussterben. Im Deutschen war Latein, gerade in der Kirche und Wissenschaft, beispielsweise lange der grosse Konkurrent: Luther und Zwingli begannen dann während der Reformation auf Deutsch zu predigen – damals revolutionär. Im 18. Jahrhundert war Französisch extrem populär im deutschsprachigen Raum – es war schick, Französisch zu sprechen, obschon sich bereits damals viele Leute über diesen «à la mode»-Stil aufregten. Das Englische beeinflusste das Deutsche zudem schon im 17. Jahrhundert, etwa im Bereich der Seefahrt (Boot, Dock, Lotse), später in der Technik (Lokomotive, Leitartikel, Demonstration). 

PUBLISHER: Wie erklären Sie sich die Popularität der Anglizismen? 

Bubenhofer: Ähnlich wie damals beim Französischen: Englisch ist schick oder eben «cool». Zudem gab und gibt es über Technik und Wissenschaft eine sprachliche Beeinflussung. Englisch hat heute überdies einen ähnlichen Status wie früher Latein – eine universelle Sprache, die in einer bestimmten Community von allen verstanden wird. 

PUBLISHER: Lässt sich (z. B. anhand von Entwicklungsdaten der Vergangenheit) erahnen, in welche Richtung sich die Sprache voraussichtlich entwickeln wird? Welche sprachlichen Stilmittel könnten in Zukunft noch intensiver verwendet werden?

Bubenhofer: Technische Entwicklungen sind immer ein wichtiger Treiber für Sprachwandel. Wenn sich Kommunikationsmöglichkeiten weiter verändern, wird sich auch die Sprache daran anpassen. Die Globalisierung, sowohl auf wirtschaftlicher als auch kultureller Ebene, wird sicher auch weiterhin Spuren hinterlassen, ebenso neue Migrationsströme.

PUBLISHER: Manche behaupten, die deutsche Sprache werde je länger je mehr «verhunzt». Stimmen Sie dem zu? Ist gar denkbar mit all den Anglizismen und auch umgekehrt Entlehnungen des Englischen aus dem Deutschen dass sich die deutsche und englische Sprache angleichen werden?

Bubenhofer: Das Lied des Sprachverfalls wird schon lange gesungen: Bereits Goethe sah Verfallserscheinungen des Deutschen. Man muss aber sagen, dass dies ganz normale Sprachwandelphänomene sind – und zum Glück gibt es sie, das ist ein Zeichen für die Lebendigkeit der Sprache(n). Ich bin der Meinung, dass Englisch weiterhin eine grosse Rolle spielen wird, aber man kann auch sehen, wie in bestimmten Ländern oder soziale Gruppen plötzlich eine nationale Orientierung wieder wichtiger wird und damit auch die Sprache (zumindest dieser Gruppen) verändern wird.

Besten Dank für das Gespräch!

Prof. Dr. Noah Bubenhofer
Seit September 2019 ist Prof. Dr. Bubenhofer Professor für Deutsche Sprachwissenschaft am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Davor war er in verschiedensten Universitäten und Instituten in der Schweiz und Deutschland tätig. In den letzten Jahren hat Prof. Dr. Bubenhofer mehrere Werke mit Linguistik-Bezug, darunter 2020 «Visuelle Linguistik. Zur Genese, Funktion und Kategorisierung von Diagrammen in der Sprachwissenschaft» veröffentlicht.

Rolle der Druckereien im Sprachwandel
Dass die deutsche Sprache heute so einheitlich daherkommt, ist unter anderem Verdienst der Druckereien: Im 15. und 16. Jahrhundert, als der Buchdruck erfunden wurde, existierte kein einheitliches Deutsch, sondern viele unterschiedliche Varietäten, also Dialekte – und selbst innerhalb dieser Sprachvarianten gab es keine standardisierte Orthographie: Man schrieb, wie man wollte. Mit dem Aufkommen des Buchdrucks ergab sich erstmals die Möglichkeit, relativ günstig grössere Mengen an Druckschriften zu produzieren. Die Drucker hatten die Aufgabe, die Texte zu setzen und hatten ein Interesse, dass die Drucke von möglichst vielen Lesenden verstanden werden. So wurden Standardisierungsprozesse in punkto Rechtschreibung, Vokabular und Grammatik losgetreten: Man geht davon aus, dass im 16. Jahrhundert etwa sechs bis sieben «Druckersprachen» vorhanden waren und begannen, den deutschen Sprachraum zu dominieren. Eines dieser «Drucksprach-Zentren» befand sich im heutigen Basel.


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