Sprache lautmalen

Mit Kinderreimen, Einschlafliedchen, Tischgebeten oder Tierstimmen hat alles angefangen: Die Kuh sagt Muh. Das kindliche Ohr entdeckt die Schönheit der Laute als Ausprägung des persönlichen Ausdrucks. Das Kikeriki kommt vor dem Begriff Hahn und das Miau vor der ­Katze. Lautmalen berührt die Seele. Hörensehen wir hin!

Das Hören ist wie das Sehen eine angeborene Sinneswahrnehmung, die sich während der Evolutionsgeschichte anpasst. Vermutlich kann die jüngere Generation Tonfrequenzen (wie aus dem Computer) besser identifizieren als es ältere Leute können. Diese jedoch können wohl Vogelstimmen treffender auseinanderhalten. Ich bin weder Akustiker noch Tontechniker – mich fesselt einfach die Verwandschaft zwischen der Welt der Töne und der visuellen Kommunikation. Im Bereich der Poesie, der Gedichte und der Sprache sind die Schnittmengen offensichtlich.

Der mündliche Ausdruck ist doch sehr individuell ausgeprägt, jeder Mensch ist durch seine Stimme fast zweifelsfrei identifizierbar. Am Telefon erkennen wir das Gegenüber, ohne es zu sehen. Die Stimme kann in verschiedenen Tonlagen erklingen: sanft, schrill, laut, leise. Wir können sie dehnen oder stakkatoartig über die Zuhörer hämmern. Die Sprechpausen! Mit Sprechpausen betonen wir das Gesagte und geben Zeit zu reflektieren. Das tonlose Nichts betont. Singen, jauchzen, jodeln, schimpfen, toben, brüllen, weinen. Die stimmlichen Ausdrucksmöglichkeiten sind universell und nur wenig kulturell gebunden. Wir werden traurig, wenn wir ukrainische Grossmütter weinen sehen, denen gerade das Hab und Gut weggebomt wurde. Der stimmliche Ausdruck ist gleichzeitig interkulturell und höchst individuell.

Das Tonhalleorchester Zürich visualisiert in seinem Corporate Design auf vortreffliche Art den Rhythmus und Klang über schmale und breite Buchstabenformen, die so in Printmedien oder auf der Webseite sogar animiert vorkommen. Die breiten Buchstaben brechen durch die Dehnung den Leserhythmus.
Der Kanton Zürich benützt die Helvetica (1957) als Hausschrift. In der Auszeichnung Black wirkt sie äussert schwerfällig und plump, sie ist auch nicht lesefreundlich und erschwert Sehbehinderten den Zugang zu politischen Informationen. Im Ausdruck wird die Helvetica Black nicht der Agilität und der Diversifikation des Kantons gerecht. Die Klangfarbe der Helvetica Black ist brüllend, laut und nervtötend wie das durchdringende Nebelhorn eines Hochseeschiffes.

Erst etwa um 3500 v. Chr. schufen die Sumerer im heutigen Irak mit einer Keilschrift erste Piktogramme, welche aus etwa 800 Bildzeichen bestand. Sie wurde von oben nach unten geschrieben. Um die gleiche Zeit entstand die ägyptische Hieroglyphenschrift, die aus etwa 1000 Laut-, Wort-, und Deutungszeichen bestand. Um 2600 v. Chr. entstand in China die chinesische Wortschrift, die aus etwa 50 000 Zeichen besteht (wovon ein Zeitungsleser etwa 2000 bis 3000 verstehen muss).

Im Verlauf der Jahrhunderte entwickelten die Phönizier, ein Handelsvolk an der syrischen Mittelmeerküste, eine linksläufige Konsonantenschrift, die aus 22 Konsonanten bestand. Es war einfacher, 22 Konsonanten als 800 Piktogramme zu lernen. Sie kehrten vom System der Bildzeichen ab und erfanden eine Lautschrift, bei welcher die einzelnen Laute ein Zeichen bekamen. So konnten sie alle Laute nachbilden und in diesem genialen System die Sprache überlieferbar und konservierbar machen. Die Chinesen können ihr Mandarin, die heutige Bilderschrift, in allen Dialekten des grossen Landes lesen, sie können sich jedoch nicht mündlich unterhalten. Es ist dort so, wie wenn wir in Europa eine einheitliche Schriftsprache hätten, uns mündlich aber in den Landessprachen verständigen würden. Esperanto war ein Versuch in diese Richtung, der sich aber nicht durchgesetzt hat.

Lautmalerei
Onomatopoesie ist die sprachliche Nachahmung von aussersprachlichen Schallereignissen. Alternative Bezeichnungen sind Lautmalerei, Tonmalerei, Lautnachahmung, Klangnachahmung, Schallnach­ahmung, Schallwortbildung, Tonwortbildung, Klangnachbildung, Onomatopoiie, Onomatopoie und Onomatopöie. Wikipedia

Das Alphabet gelangte über die alten Griechen, die die Vokale einführten, und die Römer in unseren Kulturraum. Der Vorteil der Lautschrift ist die freie Kombinierbarkeit neuer Wörter, die einfach der Aussprache folgen. Mit 26 Buchstaben können wir uns vollständig ausdrücken. Weit mehr Zeichen benützen wir, um die Sprache zu präzisieren, so sind heute Hunderte von Ziffern, Satz-, Sonder- und Begriffszeichen im Umlauf, welche die Betonung oder Gliederung ermöglichen. Der Nachteil einer Lautschrift: Sie ist kulturell gebunden und wird wie die Mathematik erst in der Schule erlernt. Sie muss zwingend einem Regelwerk folgen, damit sie deutungsgenau von allen verstanden wird.

Zunehmende Buchstabenabstände verlangsamen das Lesetempo. Die typografische Verteilung stellt hier das natürliche Vorkommen in der Natur dar.

Wir sollten uns bewusst sein, dass die Schriftsprache den mündlichen Ausdruck ergänzt und diesen nicht etwa ersetzen kann. Wir können Tonlage, Lautstärke oder Dehnung fast beliebig variieren, was in der Schriftsprache nur bedingt funktioniert. Dort lassen sich Dehnlaute einsetzen: sooo oder mmh. Wir können im Fliesstext die Buchstaben aber nicht beliebig anschwellen lassen, so in der Art:

Das würde ganz unweigerlich zum Verlust von Effizienz und Leserlichkeit führen. Die visuelle Betonung bietet jedoch vielerlei Möglichkeiten, um die Musikalität der Sprache in Gedichten, im Symbolismus, oder im Impressionismus zum Ausdruck zu bringen.

Malerische Sprache
Es gibt Wörter, die sind einfach schön. Sie drücken mit ihrem Klang gleich auch ihre Bedeutung aus:

Das Aussehen der Zeichen des gesprochenen Wortes haben keinen direkten Zusammenhang mit dem Klang, der ja in jeder Sprache akzentuiert klingt. Im Deutschen gefallen mir die Worte besonders, die visuell unterstützen, wie sie tönen.

Die runden Buchstabenformen sind weicher und geschmeidiger als andere, die kantiger und eckiger wirken.

Der Klang der einzelnen Lettern ist entweder kurz oder etwas gedehnter, die Betonung erfolgt aus dem Zusammenhang nach den Silben – bei Lesen und Sprechen meist spontan.

Das Deutsche kennt verschiedene Methoden der Dehnung. Die Buchstabenverdoppelung hat eine Verkürzung des vorangegangenen Vokals zur Folge: Glitter, Wetter, muss, flattern. Anderseits kann die Verdoppelung auch eine Vokaldehnung bedeuten: See, Masse, Leere. Dehnungen gibt es auch über ie (Dieb) oder über ah (Rahm).

Es stellt sich die Frage, welchen Rhythmus die Schriftsprache enthält und wie weit die Typografie, beispielsweise die gewählte Schrift, die Schriftgrösse, der Buchstabenabstand, die Zeilenlänge, der Zeilen- oder der Absatzabstand, in der Lage sind, die sprach­liche Melodie zu unterstützen, ohne dass gleich ein visuelles Chaos die Leserlichkeit ertränkt.

Der Dadaist Hugo Ball wird als Begründer der Dada-Lautdichtung angesehen. Er trat 1916/1917 mit seinen Lautgedichten in Zürich auf. Die Karawane ist eines seiner Werke. Der Verzicht auf Grossbuchstaben bildet die Monotonie der Karawane nach. In abstrahierter Form kommt der Buchstabenrhythmus anschaulicher zur Geltung.

Rhythmus
Die gesprochene Sprache weist einen Rhythmus auf, der aus kurzen Lauten und Dehnlauten besteht, die wir im Kehlkopf und Rachen unterschiedlich bilden. Vokale tönen lauter als Zischlaute. Die Modulation der Töne besteht aus der Stärke, der Länge und der Frequenz. Dazu gesellen sich die Sprechpausen zwischen den Wörtern, Sätzen und Gedankenfolgen.

Eine Analogie finden wir in der geschriebenen Sprache. Der Duktus der Buchstaben gibt ebenfalls einen Rhythums vor. Die Buchstabenformen bestehen aus den Grundformen, Quadrat, Dreieck und Kreis, daraus werden alle Zeichen entwickelt.

In der Zeichenfolge mit den Wortzwischenräumen ergibt sich ein unregelmässiger Rhythmus.

In abstrahierter Form kommt der Buchstabenrhythmus anschaulicher zur Geltung.

Bei den Grossbuchstaben unterscheiden wir zwischen solchen mit schrägem Aufbau, mit runden oder geraden Formen. Im Deutschen springen sie wegen ihrer Häufigkeit als kleine Eyecatcher aus dem Satzbild ins Auge – sie betonen die Substantive und den Satzanfang.

Schrift ist nie exakt symmetrisch, so sind etwa e oder o nicht kreisförmig, und die beiden Abstriche des A sind nicht gleich dick. Im Verlauf der Jahrhunderte hat sich das Design der Schriften immer wieder gewandelt. Sie werden erst seit ungefähr zwanzig Jahren auf Bildschirmleserlichkeit getrimmt. Ich gehe mal davon aus, dass die meisten Buchstaben heute auf Bildschirmen gelesen werden, auf dem Desktop, dem Handy, dem Tablet oder in anderen Medien.

Die Verteilung der einzelnen Zeichen in der Sprache ist heute gut dokumentiert, so sind die vier häufigsten Buchstaben e (17 %), n (10 %), i und s (7 %). Die seltensten Buchstaben im Deutschen sind x (0,11 %), q (0,07 %) und y (0,06 %). Die häufigsten Buchstaben prägen das Design einer Satzspalte mehr als solche, die ganz selten vorkommen. Die Häufigkeitsdarstellung unten zeigt, dass die Formen der häufigsten Buchstaben die x-Höhe nicht überschreiten und keine Unterlängen vorkommen.

Die Unter- und Oberlängen einer Schrift sind für den vertikalen Satzrhythmus verantwortlich.

Die Kombination von Mittellänge-, Ober- und Unterlängen, von Versalbuchstaben, Satzzeichen und Leerräumen machen das Satzbild der deutschen Sprache aus. Dazu kommt die Eigenart, Wörter zu neuen Vokabeln zusammenzusetzen. Aus Garten und Zaun wird ein Gartenzaum. Im Englischen oder im Französischen bleiben die Ursprungswörter einzeln bestehen: garden fence oder clôture de jardin. Sind die Wörter kürzer, ist das Satzbild homogener – es gibt weniger Trennstellen und die hässlichen weissen Löcher beim Blocksatz kommen seltener vor. Die Grossschreibung im Deutschen hat zur Folge, dass in einer Satzspalte wie beim PUBLISHER zwei bis drei Versalien pro Zeile ­vorkommen.

Häufigkeit der Buchstaben im Deutschen

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Die Rangfolge der häufigsten Buchstaben im Deutschen zeigt, dass nur Mittellängen mit rundlichen Zeichen betroffen sind, was zu einem eher «weichen» Schriftbild führt. Mit den fünf häufigsten Buchstaben e, n, i, s und r wird etwa die Hälfte, mit den zehn häufigsten etwa Dreiviertel des Bedarfs abgedeckt.

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Die acht Buchstaben, die im Deutschen am wenigsten in Gebrauch sind. Der letzte Platz wird vom y belegt: 0,06 % des gesamten Buchstabenbedarfs.

Optisch wirken Versalbuchstaben wie ­Mo­nu­mente am Anfang eines Wortes. In anderen ­europäischen Sprachen wird nur am Satzanfang gross­geschrieben – ohne die eher kantigen und krakeligen Grossbuchstaben wirkt das Satzbild rundlicher und geschmeidiger. Übrigens gilt als optimale Zeichenzahl in Magazinen etwa 38 bis 40 Buchstaben inkl. Zwischenräume. Als Eselsbrücke: das Eineinhalbfache der Buchstabenzahl des Alphabets.

Dazu kommt die Schriftwahl. Es gibt Tausende Variationen mit individuell ausgeprägter Bildsprache, hier stellvertretend Beispiele «runder» und «eckiger» Schriften.

Lorem ipsum
Mit Blindtext werden Satzspalten oft aufgefüllt, um ein Layout zu gestalten oder ein Dummy herzustellen. Da gibt es diesen pseudo-lateinischen Blindtext, der mit «Lorem ipsum» beginnt. Er wurde in den 1980er Jahren von Aldus für PageMaker eingeführt. Andere Textverarbeitungsprogramme, haben seitdem Lorem ipsum als Blindtextvorlage übernommen. Lateinisch erhält auch, wer in InDesign in eine Textbox Platzhaltertext einfüllt (Textbox aufziehen, Menü Schrift > Mit Platzhaltertext füllen).

Lateinisch sieht (wie auch Italienisch, Französisch oder Englisch) völlig anders aus als das Deutsche. Es gibt dort viel kürzere Wörter, mehr rundliche Buchstaben mit Mittellänge und die Versalien fehlen weitgehend. Das Satzbild – oder im Blocksatz die weissen Löcher – werden nur im Deutschen ähnlich gebildet. Wer lateinischen Blindtext einfüllt, macht den Fehler, das Satzbild nicht so zu simulieren, wie es später aussehen wird. Du kannst das deutsche Trennprogramm nicht bei lateinischem Blindtext einrichten!

Ich höre immer die Aussage, dass (pseudo-)lateinischer Blindtext nicht gelesen wird und so das Aussehen mehr Gewicht erhält. Im Internet gibt es auch deutschen Blindtext, der lustig ist und ebenfalls nicht für bare Münze genommen wird: blindtextgenerator.de.

  • Autor Ralf Turtschi
    Ralf Turtschi ist Inhaber der R. Turtschi AG. Der Autor ist als Journalist und Fotoreporter für die Gewerbezeitung, unteres linkes Zürichseeufer und Sihltal, unterwegs. Er ist als Dozent beim zB. Zentrum Bildung, Baden,
    tätig, wo er im Diplomlehrgang Fotografie der Masterclass Fotografie und an der Höheren Fachschule für Fotografie unterrichtet.
  • Rubrik Design & Praxis
  • Dossier: Publisher 4-2022
  • Thema Typografie

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