Kreativität für die Berufsbildung

Berufs- oder Allgemeinbildung? Vor dieser Wahl stehen die Jugendlichen nach der obligatorischen Schulzeit. Obwohl das Schweizer Berufsbildungssystem eine tiefe Jugendarbeitslosigkeit ermöglicht und die Vielfalt des Angebots weit über die Landesgrenzen hinaus einmalig ist, zeigt sich, dass die Berufsbildung an Attraktivität verliert – gerade auch im Bereich der Gestaltungsberufe.

Jugendliche berichten, dass sie wegen zu weniger Ausbildungsplätze oder fehlender Vorqualifikationen nicht die gewünschte Lehrstelle finden. Unternehmen beklagen, wegen mangelndem Interesse oder zu tiefer Lernniveaus nicht alle Lehrstellen besetzen zu können. Trotzdem finden rund zwei Drittel der Schweizer Jugendlichen über eine Berufslehre mit einem EBA- oder EFZ-Abschluss in den Arbeitsmarkt. Zwischen 1990 und 2020 nahm die Zahl Jugendlicher, die eine allgemeinbildende Mittelschule (Gymnasium und Fachmittelschule) vorziehen, aber um mehr als 10 % zu. Das heisst, wir erleben einen Trend zur Akademisierung, der das Schweizer Berufsbildungssystem unter Druck setzt.

Fehlende Anreize für die berufliche Grundbildung
Jugendliche, die ihre Zukunft nicht in den Bereichen Maschinenbau, Konstruktion, Informatik, Elektronik, Automation oder Wirtschaft sehen, sondern sich für die angewandte Gestaltung interessieren, bilden sich nach der Maturität oder Fachmaturität an einer Fachhochschule (FH) weiter. Der Königsweg, der über einen EFZ-Berufsabschluss in die höhere Berufsbildung führt, wird trotz praxisnaher Inhalte, die eng auf die Bedürfnisse der Wirtschaft abgestimmt sind, nicht ausreichend gefördert.

Zum Beispiel werden die wenigen dualen Lehrstellen für Grafiker/innen EFZ wegen der grossen Nachfrage, die sich in zahlreichen Blindbewerbungen gut qualifizierter Jugendlicher zeigt, oft nicht auf Lehrstellenportalen ausgeschrieben. Demgegenüber gehen für Lehrstellen im Druckbereich kaum mehr Bewerbungen ein. Jugendliche berichten, dass ihnen von Lehrpersonen und Berufsberatungsstellen davon abgeraten wird, Lehrberufe zu wählen, die z.B. von Unternehmen in der sich verändernden grafischen Branche ausgeschrieben werden. Auch fehlt Eltern mit akademischem Bildungshintergrund oft das Wissen über die attraktiven Entwicklungsmöglichkeiten der Lehrberufe, um ihre Töchter und Söhne bei der Berufswahl unvoreingenommen unterstützen zu können.

Zusammengefasst verlieren die vielfältigen 230 EFZ-Berufslehren an Attraktivität, wenn Anreize für die Entwicklung der Berufsbildung in kleinen Branchen fehlen. Als Folge wählen Jugendliche die allgemeinbildende Sek II-Stufe und im Bereich der angewandten Gestaltung verlagert sich die Berufswahl in den praxisfernen Tertiär A-Bereich.

Kleine Unternehmen und OdA unter Druck
Unternehmen investieren viel in die duale Berufsbildung und leisten damit einen wichtigen Beitrag zum Fortbestehen der Berufsbildung. Mit den Lehrstellen, die Unternehmen für Jugendliche freiwillig schaffen, stellen sie sicher, dass in Zukunft gut qualifizierte Fachkräfte zur Verfügung stehen. Zusätzlich zu den Investitionen der Unternehmen geben Bund, Kantone und Gemeinden rund 40 Milliarden Franken – das sind über 17 % der gesamten Ausgaben der öffentlichen Hand – für Bildungszwecke aus. Das Bundesamt für Statistik publiziert jährlich eine Übersicht.

Im Bereich der angewandten Gestaltung ist für kleine Unternehmen der personelle und finanzielle Aufwand für Lernende kaum mehr tragbar. Auch für die kleinen Organisationen der Arbeitswelt (OdA) ist die Berufsbildung eine grosse Belastung. Insbesondere kleine Verbände, die sich der regionalen Produktion oder dem Erhalt von schützenswertem Kulturgut annehmen, sind oft zu schwach, um Berufsbilder weiterzuentwickeln oder sogar neu zu lancieren, die Fertigkeiten wie Programmierung oder Produktion von 3D-Druckerzeugnissen beinhalten.

Grosses Potenzial der beruflichen Grundbildung
In den Bereichen, in denen zu wenig duale Lehrstellen, welche Betrieb und Schule verbinden, angeboten werden, bieten schulische Vollzeitlehren (Fachklassen) Abhilfe. In der Deutschschweiz wurden mit dem Aufkommen der FH-Vollzeitangebote die Fachklassen mit EFZ-Abschlüssen, die früher von den Kunstgewerbeschulen angeboten wurden, stark reduziert, obwohl diese Angebote einen Kultstatus genossen. In der französisch- und italienischsprachigen Schweiz werden schulische Vollzeitlehren hingegen weiterhin für den Erhalt der gestalterischen EFZ geführt. Gesamtschweizerisch trägt das zu einer Stabilisierung der Zahlen bei.

Sehr viele Jugendliche wünschen sich eine berufliche Laufbahn, die angewandte Gestaltung mit manuellen, technologischen und digitalen Kompetenzen verbindet. Die grosse Nachfrage wird mit hohen Anforderungen eingedämmt.

Berufslehren führen in keine Sackgasse, wenn Lehrbetriebe und Berufsschulen bei jungen Erwachsenen zugleich handlungskompetenzorientiertes Denken sowie Kreativität und Selbstverantwortung für die eigene Laufbahn fördern. Berufswechsel sind heute gut möglich. Wer Ideen hat und daraus Ziele für sich ableitet, hat im aktuellen Arbeitsmarkt, der immer mehr Autonomie fordert, beste Voraussetzungen. Für eine Berufslehre «Kreativität» wird sich keine OdA finden, die eine neue Bildungsverordnung lanciert. Kreativität ist aber eine Kernkompetenz, die für die gesamte Berufsbildung unentbehrlich ist.

Praxisnähe als Stärke der höheren Berufsbildung
Auch die höhere Berufsbildung ist eng auf die Bedürfnisse der Wirtschaft abgestimmt. Dies erklärt die hohe Akzeptanz, die die rund 470 verschiedenen Abschlüsse auf dem Arbeitsmarkt geniessen. Ein Grossteil der Studierenden absolviert seine Fortbildung berufsbegleitend, viele übernehmen bereits während des Studiums Führungsaufgaben. Die Arbeitsmarktchancen der Studierenden, die den Tertiär B-Bereich durchlaufen – d. h., mit einem eidgenössischen Fachausweis (EFA), einer höheren Fachprüfung (HFP) oder einem Diplom einer höheren Fachschule (HF) abschliessen –, sind ausgesprochen hoch. Umso mehr ist es irritierend, dass diese Studierenden im Vergleich zu Lernenden des Tertiär A-Bereichs viel höhere Studiengebühren zahlen.

Eine Erhebung, die das Forschungsinstitut econcept 2019 durchführte, hebt die grosse Bedeutung der HF hervor. Wegen ihres praxisnahen Profils sind HF wichtige Pfeiler des Schweizer Bildungssystems. Trotzdem besteht grosser Handlungsbedarf: Im Vordergrund steht die unzureichende Anerkennung der HF-Titel im In- und Ausland. Auch liegt die Subventionierung der Angebote im Vergleich mit den Angeboten des Tertiär A-Bereichs unverhältnismässig tief. Dies ist bemerkenswert, weil die Bildungsausgaben mit steigender Bildungsstufe zunehmen (vgl. Abb. 1). Je höher die Stufe, desto höher sind die Löhne für die Lehrkräfte, die Anforderungen an die Infrastruktur und der Bedarf an administrativem und technischem Personal.

Im Bereich der angewandten Gestaltung ist die Situation besonders besorgniserregend. Die Subventionen fliessen an die Kunsthochschulen (FH) des Tertiär A-Bereichs. Die erwähnte Reduktion der Fachklassen EFZ wurde mit der Praxisferne der Vollzeitlehren begründet. Die Arbeitsmarktfähigkeit der beispielsweise rund 700 Designer, die jedes Jahr im Bereich der visuellen Kommunikation einen Bachelorabschluss erlangen, wird hingegen nicht hinterfragt.

Das Bild der beruflichen Grundbildung wiederholt sich also in der höheren Berufsbildung: Akademische Laufbahnen gewinnen gegenüber der Berufsbildung überhand. Das ist bedauerlich. Heute sind die Schulen für Gestaltung die Kunstgewerbeschulen von früher. Als Partner der OdA verbinden sie die berufliche Grundbildung mit der höheren Berufsbildung und schlagen die Brücke zwischen der angewandten Gestaltung und der berufsübergreifenden Kernkompetenz Kreativität. 

Marianne Glutz
Rektorin der Schule für Gestaltung Zürich, Präsidentin der Swiss Design Schools und der Konferenz für Weiterbildung der Berufsfachschulen des Kantons Zürich, Fachlehrperson mbA Gestaltung, DAS in Arts Administration

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