Freier Pixelfuchser für Fotoprofis
Das in technischer Hinsicht wohl fortschrittlichste freie Bearbeitungsprogramm für RAW-Dateien bietet in seiner kürzlich erschienenen Version 5.5 nicht nur zahlreiche Verbesserungen, sondern auch einige Alleinstellungsmerkmale.
Obwohl die RAW-Bearbeitung aus technischer Sicht höchst anspruchsvoll ist, herrscht an Open-Source-Alternativen zu Lightroom und Co. kein Mangel. Das zum jetzigen Zeitpunkt leistungsfähigste Programm dieser Kategorie ist RawTherapee, dessen Zielgruppe ausdrücklich professionelle und semiprofessionelle Fotografen sind.
RawTherapee ist für alle drei grossen Desktop-Betriebssysteme – Linux, Mac OS und Windows – erhältlich und lässt sich ausserdem auf jeder unterstützten Plattform über die Kommandozeile mittels Scripts steuern. Gerade die letztgenannte Eigenschaft hat dazu geführt, dass das Programm von staatlichen Institutionen und Unternehmen eingesetzt wird, die täglich mehrere tausend Bilder und Dokumente einscannen beziehungsweise abfotografieren und die digitalen Dokumente mit RawTherapee automatisiert optimieren und speichern.
«Form follows function»
Die Beobachtung, dass Programme mit hochspezialisierten und gerade deshalb vom Umfang her beschränkten Funktionen wie RAW-Bearbeiter zu völlig unterschiedlichen Lösungen bezüglich der Benutzeroberfläche gelangen, bestätigt RawTherapee in beeindruckender Weise. Dies bedeutet, dass man schon etwas Zeit investieren muss, um mit der Software warm zu werden, zumal man hier mit nackter Funktionalität ohne Schnörkel und anfangs gewöhnungsbedürftigen Icons konfrontiert wird. Erfreulicherweise wird man bei der Nutzung durch viele nützliche Tooltips unterstützt, die die Einarbeitung erleichtern. Hinzu kommt eine Website (rawpedia.rawtherapee.com), die nicht nur eine mehrsprachige Dokumentation des Programms enthält, sondern auch allerlei nützliche Informationen rund um das Thema RAW.
Ist die erste Hürde einmal genommen, kommt man sehr schnell zum Ziel, vorausgesetzt man hat schon Erfahrung in der High-end-RAW-Bearbeitung. Weiterhin ist positiv zu vermerken, dass das Programm auf allen unterstützten Plattformen weitgehend identisch aussieht und zu bedienen ist, sodass sich keinerlei Reibungsverluste beim Wechsel des Betriebssystems ergeben.
Das Kreuz mit den Beiwagen
Da es sich beim Editieren von RAW-Bildern stets um eine nicht-destruktive Bearbeitung handelt, werden die Änderungen in zusätzlichen Dateien, den sogenannten Sidecars gespeichert. Hier verwendet jedes Programm seine eigene Variante – Lightroom beispielsweise XMP, RawTherapee PP3. Da es bisher keinen Standard gibt, der eine einheitliche Speichermethode für die Bearbeitungsparameter ermöglicht, und jede RAW-Software ihre eigenen technischen Wege verfolgt, um zum Ziel zu gelangen, ist der Datenaustausch zwischen RAW-Bearbeitungsprogrammen einstweilen ein Wunschtraum. Konkret bedeutet dies, dass sich Sidecars aus Lightroom nicht in RawTherapee öffnen lassen und umgekehrt.
RawTherapee arbeitet bei RAW-Dateien mit einer Genauigkeit von bis zu 96 Bit pro Kanal (RGB und LAB), was, ähnlich wie Lightroom, eine zum reibungslosen Funktionieren nicht zu unterschätzende Hardware-Ausstattung voraussetzt. Weit wichtiger ist aber, dass alle Berechnungen in Gleitkommazahlen durchgeführt werden, sodass an keiner Stelle Rundungsverluste auftreten. Bisher gibt es kein anderes RAW-Bearbeitungsprogramm, das in dieser Präzision arbeitet.
Aktuelle Fototechnologien
Für objektiv- und kamerabasierte Korrekturen verlässt sich das Programm auf externe und freie Bibliotheken und Datenbanken, zu deren Aktualisierung die Entwickler aber auch selbst beitragen. Ein kursorischer Test mit RAW-Dateien in Open-Source- und kommerziellen Programmen hat ergeben, dass es an den Rändern heutzutage verfügbarer Brennweiten, vor allem im Weitwinkel- und Makrobereich, mit jeder Software Probleme gibt, auch wenn diese sich von Produkt zu Produkt und von Format zu Format unterscheiden. Im Falle von RawTherapee lässt sich feststellen, dass es extreme Weitwinkelaufnahmen im CR2-Format noch nicht korrekt laden kann (Vignetteneffekt) und man hier auf die TIFF-Version aus der Kamera zurückgreifen muss.
Eine der grössten Stärken von RawTherapee ist die schnelle Adaption von fortgeschrittenen Fototechnologien. So unterstützte das Programm sehr früh die von Sony entwickelte «Pixel-Shift»-Technologie, die einen deutlich besseren Kontrast sowie grössere Schärfe und Farbgenauigkeit ermöglicht. Weiterhin unterstützt die aktuelle Version 5.5 jetzt «Phase Detection Auto Focus» (PDAF) in RAW-Dateien aus Nikon- und Sony-Kameras, sodass die sich daraus ergebenden Darstellungsfehler herausgefiltert werden.
Farbkontrolle
Eines der wichtigsten Argumente für die Arbeit mit digitalen Negativen ist die im Vergleich zu «einfachen» Bilddateien grössere Kontrolle über die Farben. RawTherapee 5.5 wartet hier mit vielen nützlichen Neuerungen auf, darunter auch die Unterstützung für ICC-Profile der Versionen 2 und 4. Darüber hinaus ermöglicht Version 5.5 jetzt das Erzeugen und Exportieren von benutzerdefinierten Farbprofilen.
Eine weitere wichtige neue Funktion ist die Möglichkeit zu entscheiden, ob man den Farbumfang eines Bildes auf ein eingestelltes Profil beschränken möchte oder nicht. Weiterhin wurden die Optionen des Histogramms erweitert (Linear, Log, Log-Log). Auch das Werkzeug zur Korrektur chromatischer Aberrationen wurde grundlegend überarbeitet.
Helligkeit und Kontrast
Zu den Höhepunkten des neuen RawTherapee gehört eine auf den ersten Blick unscheinbare Neuerung, nämlich die Kontrastschwellenmaske im Bearbeitungsmodus unter Details. Letztere ermöglicht es, Bilder in Bereiche mit vielen und wenigen Details (zum Beispiel Vordergrund und Hintergrund) zu unterteilen, sodass die Korrekturalgorithmen nur auf die Bildbestandteile angewendet werden, für die sie sinnvoll sind. Auf diese Weise verbesserte sich nicht nur die Effizienz bestehender Werkzeuge, wie etwa die zum Schärfen, sondern die Entwickler wurden dadurch in die Lage versetzt, das Alleinstellungsmerkmal «Dual-Mosaicing» einzuführen, welches verschiedene Optimierungsmethoden kombiniert. Auf diese Weise gelangt man wesentlich schneller zum Ziel als mit herkömmlichen Werkzeugen.
Darüber hinaus wurden aus Bildbearbeitungsprogrammen bekannte Werkzeuge wie eines zum Entfernen von Dunst oder der Filter «Weiches Licht» hinzugefügt.
Auf Wiedersehen, Halo
In Version 5.5 präsentiert RawTherapee eine neu geschriebene Korrekturmöglichkeit für Glanzlichter (im Programm «Spitzlichter» genannt), die der von Lightroom zumindest ebenbürtig, wenn nicht gar besser ist. Konkret bedeutet dies, dass es selbst mit extremsten Einstellungen nahezu unmöglich ist, einen problematischen Halo-Effekt zu erzielen, wie er bei vergleichbaren Werkzeugen in Bildbearbeitungsprogrammen immer wieder zu beobachten ist. Dies gilt selbst dann, wenn man die Option «Halo-Kontrolle» nicht aktiviert hat.
Unsortiert und unverbunden
Während Programme wie Lightroom oder Darktable mit einer komfortablen Fotoverwaltung daherkommen und im Falle Lightrooms auch den Zugriff auf in der Cloud (wenn auch nur der von Adobe) gespeicherte Dateien ermöglichen, gibt sich RawTherapee hier zugeknöpft. Zwar verfügt das Programm über einen eigenen Dateimanager, aber der erlaubt bestenfalls den Zugriff auf Netzwerkordner, während bei Cloud-Daten derzeit nur eine lokale Synchronisierung möglich ist, die auf Betriebssystemebene sichergestellt werden muss. Die Optionen zur Kategorisierung und Ordnung beschränken sich auf EXIF- bzw. IPTC-Metadaten sowie «Bewertungen». Eine Verschlagwortung oder Geo-Tagging sind nicht vorgesehen.
Auch beim Export muss man mit der eigenen Festplatte vorlieb nehmen – eine automatische Ausgabe für «soziale» Netzwerke wie Facebook oder ähnliche ist nicht vorhanden. RawTherapee ist eben ein reiner RAW-Bearbeiter, und für das Asset-Management gibt es andere Programme wie Darktable oder digiKam.
Die nicht vorhandene Zugriffsmöglichkeit auf Cloud-Dateien mag man bedauern, aber aus sicherheitstechnischer Perspektive gilt im Zweifel: Weniger ist mehr.
Kummerkind Windows
Während RawTherapee auf einem Mac oder einem Linux-PC klaglos seine Arbeit verrichtet, müssen Windows-Anwender, zumindest solche, die mit der aktuellen Version 10 arbeiten, derzeit noch mit ein paar Stolperfallen rechnen, die aber allesamt nur in bestimmten Konfigurationen auftreten, deren Hintergrund den Entwicklern noch nicht ganz klar ist.
Zunächst betrifft dies das Öffnen einer RAW-Datei über das Kontextmenü im Windows-Explorer («Open with RawTherapee»). RawTherapee erstellt dann im Hintergrund Vorschaubilder für jede Bilddatei im Verzeichnis – eine Disziplin, in der es unter Windows ohnehin nicht rekordverdächtig schnell zugeht. Befinden sich sehr viele RAW-Dateien darin, muss man unter Umständen sehr lange warten, bis sich das Bearbeitungsfenster öffnet. Wobei dann gleichzeitig auch auf einem sehr schnellen Grafik-PC der Lüftungsventilator jault.
Das zweite schwerwiegende Problem ist die Zusammenarbeit mit dem Bildbearbeitungsprogramm GIMP. Eigentlich sollte RawTherapee 5.5 nun auch mit GIMP unter Windows funktionieren, doch zumindest unter Version 10 des Betriebssystems blockiert das RawTherapee-Plug-in den Start, das Laden muss abgebrochen werden. Unter Umständen greift man also besser auf die Partha-GIMP-Version (siehe Publisher 6-18) zurück, wenn man RAW-Bilder darin direkt öffnen möchte.
Einige weitere Windows-Unschönheiten sind von den Entwicklern bereits behoben worden und werden in Version 5.6 verschwunden sein.
Fazit
Wer ein reines RAW-Bearbeitungsprogramm auf dem allerneusten Stand der Technik sucht und keine extremen Weitwinkelaufnahmen im CR2-Format bearbeiten muss, ist mit RawTherapee bestens bedient – jedenfalls unter Mac OS und Linux. Windows-Anwender müssen hingegen derzeit noch mit einigen Einschränkungen leben.
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Autor
Christoph Schäfer
- Rubrik Imaging
- Dossier: Publisher 1-2019
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