Digitale Entfremdung

Fast alle Printmedien stehen heute unter Druck. Es ist vor allem der finanzielle Druck, der gerade auch Fachmagazinen zu schaffen macht, weil Werbegelder mit zweifelhaftem Nutzen in die digitalen Kanäle abwandern. Und weil Printmedien nur mit einem grossen Einsatz von Personal- und Materialressourcen überhaupt zustande kommen. Tagesaktuelle Medien stehen zusätzlich unter politischem Druck. Die öffentlich-rechtlichen Medien werden über den Umweg der Finanzierung zu einer der Politik genehmen Programmierung gezwungen. In Venezuela, der Türkei, Russland, Ungarn, China und anderen Ländern werden die Medienfreiheit und die Meinungsäusserungsfreiheit unterbunden. In den USA beherrschen Kürzest-Twittermeldungen das mediale Tagesgeschäft. Radikale Gruppierungen oder auch Einzelpersonen vermögen mit dem Segen der Unzufriedenen ganze Gesellschaften ins Chaos zu stürzen. Man fragt sich, was in prosperierenden Gesellschaften jeweils schiefläuft, dass solche Entwicklungen möglich sind.

Die Freiheit, sich zu äussern, Einfluss zu nehmen, ist ein hohes Gut. In Diktaturen ohne diese Freiheit ist es meist auch um andere aufgeklärte Werte schlecht bestellt. Es stellt sich die Frage, wie weit die Digitalisierung und im Speziellen die sozialen Medien diese Tendenzen befeuern. Vielleicht ist das Gegenteil richtig. Die sozialen Medien verhindern, dass Potentaten, Hardliner, zwielichtige Figuren und Rattenfänger zu mehr Macht gelangen, da die offenen Kanäle Tausende von korrigierenden Reaktionen hervorrufen. Das Fatale an zu vielen Meinungen ist die Unsicherheit, was nun gilt. Tweets und Retweets im Sekundentakt – kein Mensch kann das einordnen. Ein Puff im Netz, ein Puff im Hirn. Printmedien haben eine glaubwürdige Autorität. Verschiedene Fachpersonen überlegen sich etwas, bevor sie ein Thema aufgreifen. Sie wägen ab, ordnen ein, checken die Fakten, kommentieren. Ein reifes und pluralistisches Mediensystem kann allerlei Abstruses aushalten, auch einseitigen Meinungs­journalismus, Übertreibungen, Fehltritte. Das kommt überall vor.

Zurzeit findet eine Entfremdung der Leser zu ihren Nachrichtenquellen statt. Man darf nicht mehr automatisch davon ausgehen, dass die Autoren der Wahrheit und der Gerechtigkeit verpflichtet sind. Vertraut man einem Medium, einem Bot, einem Hacker, einem Nickname oder einem leibhaftigen Journalisten? Unsicherheit schürt Ängste. Ängste sind der Nährboden für Gewalt – konservativer Nationalismus zermalmt die optimistischen Kräfte, die Neues, Besseres und Nachhaltigkeit im Sinn haben.

Ein ungutes Gefühl beschleicht mich, denn die Konsequenzen ihres Handelns waren sich in der Vergangenheit die wenigsten Gesellschaften bewusst. Büsihalter erkennen wohl nicht, dass sie am Vogelartensterben mitschuldig sind. Die Internetgründerväter haben sich nie überlegt, was das Datensammeln aus der Privatsphäre macht. Die künstliche Intelligenz überlegt sich nicht, wie ein würdiges Leben, Gerechtigkeit und eine intakte Natur weltweit zu erhalten sind. Wir haben keine Ahnung, in welche Kälte uns eine fehlende Ethik spült. Wir alle nutzen unbekümmert die digitalen Errungenschaften und erst unsere Nachkommen werden in Jahrzehnten blökend feststellen, was sie dabei verloren haben.

  • Autor Ralf Turtschi
    Ralf Turtschi ist Inhaber der R. Turtschi AG. Der Autor ist als Journalist und Fotoreporter für die Gewerbezeitung, unteres linkes Zürichseeufer und Sihltal, unterwegs. Er ist als Dozent beim zB. Zentrum Bildung, Baden,
    tätig, wo er im Diplomlehrgang Fotografie der Masterclass Fotografie und an der Höheren Fachschule für Fotografie unterrichtet.
  • Rubrik Kolumne
  • Dossier: Publisher 1-2019

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