Fotografie neu denken

Die Fotografie zeigt uns die Welt: So, wie sie ist oder geschönt. Aus ungewöhnlichen Perspektiven oder auf Augenhöhe. Retuschiert oder gar komplett überarbeitet. Doch die Grundlage ist meist das, was mit dem Sucher eingefangen wurde. Ganz anders bei Chris Tille, der in seinen freien Projekten mit fotografischen Mitteln und unter Einbeziehung der Wissenschaft versucht, das eigentlich Unsichtbare zu visualisieren.

Bearbeitete Nachtaufnahmen des Satelliten Suomi NPP, die die Erdoberfläche und ihre bewohnten Gebiete im Jahr 2297 visualisieren.

Schon im Teenageralter zog Chris Tille mit seiner Yashika-Sucherkamera los und entdeckte für sich die Welt der Fotografie. Eine fundierte Ausbildung in Innsbruck lenkte dieses erste Interesse hin zu einer ernsthaften Auseinandersetzung – die Neugierde auf ungewöhnliche Perspektiven und Herangehensweisen blieb ungebremst. Als besonders wegweisend bezeichnet er selbst die Gespräche mit dem Schweizer Fotografen, Regisseur und Kameramann Robert Frank (1924-2019), den er vor vielen Jahren in dessen Wahlheimat Kanada besuchte. Franks Publikation «The Americans» gilt bis heute als einer der einflussreichsten Bildbände des 20. Jahrhunderts, seine Fotomontagen und Dokumentarfilme wiesen immer wieder neue Blickwinkel auf.

Die Milchstrasse, wie sie in 8000 Jahren zu sehen sein wird.

Ein weiterer Mosaikstein in Chris Tilles Laufbahn war seine Tätigkeit als Assistent von Katharina Sieverding, Meisterschülerin in der Klasse Joseph Beuys. Auf diese Weise woben künstlerische Einflüssen ihre Fäden in die technisch versierte Fotografie und ergaben wie von selbst zwei Standbeine, auf denen sich Tille bis heute erfolgreich bewegt: Parallel zu seinen ersten experimentellen Arbeiten begann er sich als Porträtfotograf zu etablieren – auch hier kann es wohl seinem künstlerischen Ansatz zugeschrieben werden, dass sich Grössen aus Wirtschaft und Politik wie etwa Barack Obama gerne von ihm ablichten lassen. Das Experimentieren mit Formen und Strukturen liess ihn jedoch nie los. Nach und nach flossen weitere Parameter, wie beispielsweise Klänge, in seine Arbeiten ein, um zu neuen, noch nicht gesehenen Ergebnissen zu gelangen. Und doch steckte er irgendwann in einer Sackgasse: «Ich hatte das Gefühl, wirklich alles schon einmal fotografiert zu haben und fand keinen Weg aus diesem Dilemma heraus. Da erinnerte ich mich an einen Rat von Robert Frank: ›Wenn Du nicht weiterkommst, habe den Mut, einen Bruch zuzulassen und neu zu starten!‹ … das war irgendwie ein Schlüssel.»

Fotografie trifft auf Wissenschaft

Dieser Bruch manifestierte sich bei Tille in der intensiveren Auseinandersetzung mit Daten und Klängen, die er in Pixel umzuwandeln versuchte. In dieser Phase wurde er auf den amerikanischen Physiker John G. Cramer aufmerksam, der als erster Wissenschaftler ein Echo des Urknalls in Schallwellen überführte und damit hörbar machte. Der Grundstein, Fotografie und Wissenschaft zu vereinen, war damit gelegt: Tille visualisierte eben jene eingefangene Schallwellen des Urknalls in Lichtpunkte und machte damit etwas nie Gesehenes – den Ursprung der Welt – sichtbar. Beflügelt von diesem Ergebnis stiess er auch beim Max Planck-Institut auf offene Ohren, mit realen Messdaten Kunstprojekte umzusetzen. Der Zugang zu Sternenkatalogen ermöglichte es dem Fotografen beispielsweise, nach exakten Berechnungen die Konstellation der Milchstrasse zu visualisieren – so, wie sie in 8 000 Jahren am Himmel zu sehen sein wird. Ein Werk aus 1,2 Millionen Sternenpunkte, entstanden in 1000 Arbeitsstunden. Die Nachtaufnahmen des Satelliten Suomi NPP war zusammen mit der Studie des Bevölkerungsforschers Reiner Klingholz Grundlage eines weiteren Experiments: Hier wird aufgezeigt, wie die Nachtaufnahmen der Erde im Jahr 2297 aufgrund von Bevölkerungsverschiebungen aussehen wird. Aus realen Bildern entsteht im Zusammenspiel mit wissenschaftlichen Prognosen eine ganz neue fotografische Wirklichkeit der Zukunft.

Aufnahmen mit einer umgebauten Coggins-Kamera, die das menschliche Energiefeld sichtbar macht.

Geheimnisvolle Aura

In einem seiner neuesten Projekte kam eine ebenso spannende wie fast schon vergessene Fototechnik zum Einsatz: Die Coggins-Aura-Kamera wurde in den neunziger Jahren von Guy Coggins entwickelt und erlaubt es, Energiefelder zu fotografieren. Die Entdeckung dieser auf den ersten Blick sonderbaren Technik geschah rein zufällig. Der sowjetischen Ingenieur Semjon Kirlian berührte im Jahr 1939 bei einer Arbeit eine Elektrode, die sich unter Hochspannung neben einer Filmplatte befand. Bei der darauffolgenden Entladung wurde ein Bild sichtbar, das Kirlians Hand sowie deren Energiefeld darstellte. Chris Tille war erneut fasziniert von der Möglichkeit, etwas Unsichtbares sichtbar zu machen und begann mit seiner Serie «Kraftfeld». Hierfür liess er eine der wenigen erhaltenen Coggins-Kameras umbauen und sammelte darüber hinaus Restbestände analogen Filmmaterials aus aller Welt. «Da aufgrund des technischen Fortschritts nur noch sehr wenige dieser analogen Aufnahmen möglich sein werden, wählte ich für dieses Projekt im Vorfeld sehr sorgsam Menschen aus, die für mich persönlich zu den bedeutendsten der Welt zählen», so Chris Tille. Deren Auren, die gänzlich unterschiedlich in Dichte und Farbspektrum erscheinen, ergeben in ihrer Gesamtheit eine eindrucksvolle «Porträtserie» – wobei hier keinerlei esoterische Ansätze verfolgt werden. Dem Fotografen ging es eher um eine konsequente Reduktion, die keinerlei Interpretation oder Wertung in sich birgt.

Die Schallwellen des Big Bang umgesetzt in Licht und Schatten.

Im Gegensatz zu den normalerweise mit solchen Kameras produzierten kleinformatigen Digitalausdrucken oder Polaroids, bannte Chris Tille die als Farbwolken sichtbaren Energiefelder auf grossformatige

Negative und entwickelt hieraus lebensgrosse Abzüge, die in einer Wanderausstellung zu sehen sind. Das Echo auf diese ungewöhnliche Art der Porträtfotografie war enorm und inzwischen entstehen solche Portraits auch im Auftrag – mit grosser Faszination kann das persönliche Kraftfeld dann in den eigenen vier Wänden seine Wirkung entfalten.

Utopie oder Wirklichkeit

Reale Porträts? Diese Gesichter der Reihe «Born Dead» entstanden ausschliesslich auf Grundlage von Daten menschlicher DNA.

Im Hinblick auf die globale Diskussion um manipulierte Bilder, die kaum mehr als solche zu identifizieren sind und uns daher neue Wirklichkeiten unterschieben, ist auch ein weiteres Projekt von Chris Tille hoch aktuell: «Born Dead» ist das Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung mit fortschreitender Technik, künstlicher Intelligenz und dem tief verwurzelten, über Jahrzehnte erlernten Verhältnis des Menschen zur Fotografie. Ohne Eingriffe von aussen wurden hierfür von zwei sich gegenseitig korrigierenden Rechnern 30 000 Bilder generiert, die ausschliesslich auf Daten von kurzzeitig vernetzten sieben Millionen Computern basieren. Damit entstanden keine Fake-Fotos und keine manipulierte Realität – kreiert wurden ganz neue Wirklichkeiten basierend auf existierender, wenn auch zufällig kombinierter menschlicher DNA. Auch diese «seelenlosen» Porträts bannte Chris Tille im Grossformat auf Barryt und führt dem Betrachter vor Augen, dass Fotografie weit mehr ist, als die Abbildung der Wirklichkeit.

Immer weiter

Die Neugierde auf das Unfassbare lässt den Fotografen auch weiterhin nicht los. So wie er ins All sieht und die Fotografie als eine Art Zeitmaschine nutzt, um längst vergangene Sterne zu bannen, blickt Tille momentan in die Tiefe. Hierfür nutzt er Sonaraufnahmen von Expeditionsschiffen: «Die Routen der Schiffe werden bei diesem Projekt wie Pinselstriche dargestellt. Aus Aufnahmen, die hunderte von Quadratkilometern gross sind, wähle ich die spannendsten Passagen, werte sie optisch und thematisch aus und belichte die für mich relevanten Flächen». Das sind Perspektivwechsel, die in unserer bildgewaltigen Zeit wohltuend sind, lassen sie doch Raum für eigene Interpretationen. Zugleich sind sie ein Ansporn dafür, vorhandene Technik neu zu denken und ihr jeweiliges Potential auszuschöpfen. 

Weitere informationen: christille.de

  • Autor Bettina Schulz
    Bettina Schulz ist freiberufliche Texterin und Journalistin in München. 18 Jahre lang leitete sie als Chefredakteurin das internationale Fachmagazin novum World of Graphic Design und initiierte in dieser Zeit auch die alle zwei Jahre stattfindende Creative Paper Conference in München. Zudem ist sie Jurymitglied verschiedener (internationaler) Designwettbewerbe wie beispielsweise dem Red Dot Communication Design, dem Design Preis München oder dem IIIDaward und hielt bereits zahlreiche Vorträge. Zu ihren Kunden zählen Verlage, Agenturen und Kreative sowie Unternehmen aus der Wirtschaft. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Bereichen Papier, Druck und Veredelung. www.bettina-schulz.de.
  • Rubrik Design & Praxis
  • Dossier: Publisher 3-2020
  • Thema Fotografie, Chris Tille

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