Ein verstohlener Blick in die andere Adobe-Welt

Fast einen Drittel des Umsatzes macht Adobe heute mit der Experience Cloud – Tendenz steigend. Es kann also nicht schaden, auch als Creative-Cloud-Anwender einen Blick über den Tellerrand in die Welt des Digital Marketing zu wagen. Denn schliesslich ist es das Marketing, welches das Publishing antreibt.

Wir Publisher kennen Adobe seit Jahr und Tag als unbestrittenen Marktführer in unserer Branche. Trotzdem wird es für uns immer schwieriger, dieses immer noch rasant wachsende Unternehmen wirklich zu fassen. Nur schon die Creative Cloud bietet heute eine derartige Vielzahl an Tools, dass es auch dem gewieftesten Publishing-Profi schwer fällt, hier den Überblick zu bewahren. Noch schwieriger wird es, wenn es um die beiden anderen Geschäftsfelder Adobes geht: die Document Cloud und die Experience Cloud.

Während erstere mit Acrobat und PDF als Ankerpunkte noch einigermassen konkret fassbar ist, stellt die Experience Cloud für die meisten von uns Publishern ein Buch mit sieben Siegeln dar. Dass Adobe hier noch unter dem Radar einer breiteren Wahrnehmung fliegt, zeigt auch der Umstand, dass das deutsche Wikipedia den Begriff Adobe Experience Cloud schlichtweg nicht kennt. Und dann überhaupt dieser schwammige Begriff Experience! Und was leistet ein Tool Namens Experience Manager?

Kein Zweifel, wir bewegen uns hier in den Gefilden des Digital Marketing und da spricht man nun mal eine andere Sprache. Nichtsdestotrotz lohnt es sich, einen Blick über den Tellerrand zu tun. Denn Publishing  und Marketing, sind wie Siamesische Zwillinge untrennbar miteinander verknüpft.

Und genau solche Überlegungen dürften wohl auch Adobe vor gut zehn Jahren dazu bewogen haben, in diesen Markt zu diversifizieren. Shantanu Narayen machte nach seinem Antritt als CEO im Jahr 2009 rasch und konsequent in diese Richtung vorwärts, indem er entsprechende Firmen und Lösungen in Adobe integrierte, siehe Kasten links.

Herzstück «Made in Switzerland»

Den Grundstein für eine Digital Marketing Suite legte Adobe im Herbst 2009 mit der Übernahme der Omniture Inc. für stolze 1,8 Milliarden Dollar. Damit sicherte sich Adobe leistungsfähige Tools im Bereich Web-Analytics und -Optimierung. Schon fast zum Schnäppchenpreis von 240 Millionen Dollar schnappte sich Adobe ein Jahr später die Basler Firma Day Software. Deren auf Grossunternehmen ausgerichtetes Web-Content-Management-System Day CRX wurde als Adobe Experience Manager zum Herzstück der Experience Cloud. Damit steckt bis heute ein gutes Stück Swissmade in diesem zukunftsträchtigen Geschäftsbereich Adobes (siehe Artikel Seite 23).

In diesem Stil hat Adobe über die letzten elf Jahre ein beeindruckendes Portfolio an Lösungen unter dem Dach der Experience Cloud zusammengestellt, siehe Bild oben. Mit 859 Millionen Dollar trug dieser Bereich im letzten Quartal (Q4 FY 2019) schon fast 30 Prozent zum Unternehmensumsatz bei – dies bei einer Wachstumsrate von satten 24 Prozent. Nach anfänglicher Skepsis der Analysten findet diese Diversifizierung auch an der Börse gefallen und beflügelt die Adobe-Papiere zu immer neuen Höhenflügen.

Im Laufe der letzten elf Jahre hat Adobe ein beeindruckendes Portfolio an Digital Marketing Tools zusammengetragen und unter der Dach- marke Adobe Experience Cloud vereint

Fallbeispiel Valuu

Was die einzelnen Komponenten der Experience Cloud leisten, lässt sich am besten anhand eines konkreten Fallbeispiels erklären. Mit dem Startup Valuu (siehe Kasten) haben wir ein Unternehmen gefunden, das sich bezüglich Digital Marketing mit der Adobe Experience Cloud etwas in die Karten schauen lässt.

Gründer Thomas Jakob umschreibt Valuu salopp als Dating-App für Hypotheken: «Wir matchen das Profil des Kunden mit den Angeboten der Anbieter – und das in Realtime.» Seine Vorgabe für das Vermarkten dieser neuen Plattform war ein agiles Vorgehen mit Digital Marketing Tools, die State of the Art sind. Was er nicht wollte war die Komplexität des Projektes zusätzlich durch Probleme mit Schnittstellen zwischen einzelnen Tools vergrössern. «Ich wollte kein ‹Gebastel› und auch nicht ständig neue Budget-Anträge des Marketings auf dem Pult haben, weil man doch wieder ein zusätzliches Tool braucht.»

Sein Vorstellung war somit eine Digital-Marketing-Suite, die vom ersten Kontakt mit dem Kunden bis zum Abschluss den ganzen Prozess unterstützt und optimiert. Es gibt auf dem Markt nicht viele Anbieter, die das bieten können und so waren am Schluss nur noch Adobe und Google im Rennen. Dass man sich für Adobe entschied, hat viel mit den speziellen Anforderungen des Bankkundengeheimnisses zu tun. Im Gegensatz zu Google hat Adobes eigenes Geschäftsmodell nichts mit dem Bewirtschaften von personenbezogenen Daten zu tun.

Valuu: «Hypotheken-Dating»
Die Geschäftsidee von Valuu kehrt ein Handicap der Postfinance in eine Stärke: Da sie selber keine Kredite vergeben darf, kann sie glaubwürdig als neutrale Vermittlerin von Hypotheken auftreten. Mit dieser Idee startete Valuu Anfang 2019 als Startup innerhalb der Postfinance.
Die Finanzierung von Immobilien lässt sich über valuu.ch vollständig digital abwickeln – auch der Vertragsabschluss ist möglich. Dies reduziert für die angeschlossenen Partner den Aufwand und der Kunde profitiert von Transparenz und entspre- chend guten Konditionen.

Diese speziellen Anforderungen sind auch der Grund, dass Valuu nicht bei allen Komponenten auf Adobes Experience Cloud setzt. So stützt sich das E-Mail- und Omni-Channel-Marketing-Tool Adobe Campaign im Moment noch zwingend auf Cloudspeicher ausserhalb der Schweiz – ein absolutes No-Go für Valuu. Und als Web-Content-Management-System kommt ebenfalls eine andere Lösung zum Einsatz, die man schon vor dem Entscheid für die Experience Cloud realisiert hatte. Damit bleibt hier der Adobe Experience Manager (AEM) – bei vielen Implementierungen das eigentliche Herzstück der Experience Cloud – aussen vor. Gerade diesen Umstand, dass Adobe zwar eine Lösung mit allen Tools aus einer Hand bietet, man diese jedoch trotzdem modular austauschen kann, sieht Thomas Jakob als grosse Stärke des Adobe-Ökosystems.

Komplexe Tools wie die der Experience Cloud verlangen einiges an Einarbeitungszeit. Daher setzt man sich bei Valuu Schritt für Schritt mit einzelnen Komponenten intensiver auseinander. Dazu Thomas Jakob: «Es macht ja auch keinen Sinn, an einem Sportwagen einen zusätzlichen Spoiler zu montieren, solange man nicht weiss, wie man in den dritten Gang schaltet.»

Von Anfang an von zentraler Wichtigkeit für Valuu war Adobe Analytics. Damit lässt sich genau messen, welche Marketingmassnahmen was bringen – also zum Beispiel, wie sich der Traffic auf der Website nach Ausstrahlung eines TV-Spots entwickelt und was angeklickt wird. Das ermöglicht Rückschlüsse auf ein bestimmtes Kundensegment, das in der Folge gezielt weiter angesprochen werden kann. Ein derartiges Retargeting betreibt Valuu mit der Adobe DSP (Demand-Side-Plattform), beispielsweise mittels automatisierter Buchung von Bannerwerbung bei Portalen wie blick.ch oder nzz.ch, die dieses Kundensegment abdecken.

A/B-Tests ­– es gibt nichts anderes …

Zu einem solchen agilen Vorgehen mit ständigem Messen und Optimieren gehören natürlich auch A/B-Tests. Wobei Thomas Jakob betont, dass es bei Valuu gar nichts anderes gibt: «Wir machen nie nur A!» Eine kürzlich ausgespielte Kampagne ergab markante Unterschiede je nach Sujet. Es zeigte sich, dass auch beim an und für sich erklärungsbedüftigen Thema Hypotheken plakative Sujets mit direkter Ansprache die textlastigen ausstechen (siehe Bilder rechts).

Als nächster Schritt im Sinne «einen Gang höher Schalten» kommt im Herbst Adobe Audience als zusätzliches Tool ins Spiel. Damit lassen sich Kundengruppen segmentieren und noch gezielter mit richtigen Botschaften ansprechen.

Ein gutes Jahr nach dem Start ist man bei Valuu mit dem nicht zuletzt dank der Adobe Experience Cloud erreichten Hypotheken-Abschlussvolumen von 170 Millionen Franken sehr zufrieden. Speziell bezüglich Adobe Analytics ist Marketing Managerin Annina Spahr des Lobes voll. Auf die Schwächen der Adobe Experience Cloud angesprochen, weist Thomas Jakob auf die noch relativ geringe Verbreitung dieser Lösung in der Schweiz hin. Entsprechend schwierig sei die Rekrutierung von Leuten mit der notwendigen Erfahrung.

Man darf gespannt sein, wie rasch sich das ändern wird. Eine wichtige Voraussetzung dazu hat Adobe geschaffen, indem die Experience Cloud jetzt endlich auch ihrem Namen gerecht wird: Seit Anfang dieses Jahres ist das Herzstück, der Adobe Experience Manager, als Service aus der Cloud zu haben; Anwender müssen sich damit nicht mehr um eine eigene Server-Infrastruktur und deren Updates kümmern. Gemäss Adobe sollen sich jetzt entsprechende Lösungen statt über Monate – wie bislang in der Branche üblich – innert weniger Wochen realisieren lassen. Zudem soll die Experience Cloud mit dem Abo-Modell auch preislich für Schweizer KMU in Griffweite ­rücken.  

Mit Zukäufen vom 2-Mann-Startup zum Branchen-Primus
Sie hätten mit ihrer Firma ohne grosse Erwartungen gestartet, meinten die Adobe-Gründer John Warnock und Chuck Geschke rückblickend. Eigentlich wollten sie ihre Entwicklung Postscript selber exklusiv nutzen und mit einem kleinen Team Highend-Drucker für Workstations bauen. Steve Jobs konnte sie jedoch davon überzeugen, Postscript an Apple zu lizenzieren und somit eine reine Software-Firma zu werden.
Der Apple Laserwriter revolutionierte den Markt und Adobes Erfolgsstory nahm ihren Lauf. Zukäufe und Übernahmen spielten dabei eine entscheidende Rolle, um sich neue Geschäftsfelder zu erschliessen. So stellten die Gründer dem hauseigenen Illustrator schon bald den zugekauften Photoshop zur Seite und wurden mit der Übernahme von Aldus zum unbestrittenen DTP-Marktführer.
Auch der langjährige CEO Shantanu Narayen setzte beim Auf- und Ausbau der Adobe Experience Cloud konsequent auf Zukäufe und Übernahmen:

23.10.2009
Omniture, wurde zu Adobe Analytics

29.10.2010 Day Software, Web Content Management System Day CQ (Communiqué) wurde zum Adobe Experience Manager

16.01.2012 Efficient Frontier, wurde zu Adobe Search als Teil der Advertising Cloud; zum Verwalten von Werbung in Social-Media-Kanälen

27.06.2013 Neolane, wurde zu Adobe Campaign

11.12.2014 Fotolia, wurde zu Adobe Stock

10.11.2016 TubeMogul, Adobe DSP (Demand- Side-Plattform) als Teil der Advertising Cloud

19.06.2018 Magento Commerce, Teil der Adobe Commerce Cloud

31.10.2018 Marketo, Teil der Adobe Marketing Cloud

23.01.2019 Allegorithmic, 3D Editing, Teil der Creative Cloud

Adobe Sensei bei der Swisscom

Als Fallbeispiel für den erfolgreichen Einsatz der Experience Cloud und speziell auch der KI-Implementierung Sensei führt Adobe auch auf der internationalen Website adobe.com die schweizerische Swisscom an. 
Zentrales Marketing-Instrument der Swisscom ist die mit dem Adobe Experience Manager (AEM) implementierte viersprachige Website. Smartphones werden hier auf einer Übersichtsseite präsentiert, wo der Kunde je Modell die gewünschten Optionen wie Farbe und Speicherkapazität auswählen kann. Für den Verkaufserfolg ist es mit entscheidend, mit welchen Optionen ein Gerät standardmässig in der Übersicht erscheint.
Bei üblichen A/B-Tests werden die Besucher gleichmässig auf die Testoptionen verteilt, um herauszufinden, welche Option besser abschneidet. Mit der Echtzeit-Analyse von Adobe Analytics könnte das Marketing-Team den Fortschritt der Tests überwachen, um Trends zu erkennen und die Verteilung oder Optionen bei Bedarf manuell anzupassen.
Mit dem Einsatz von Adobe Sensei als Teil des AEM geht die Swisscom einen Schritt weiter, indem dieser Prozess automatisiert und optimiert wird. Die Auto-Allocate-Funktion von Adobe Sensei passt den Datenverkehr automatisch an den gemessenen Erfolg an. Steigt beispielsweise die Konversion, wenn den Kunden die silberne Version des Geräts statt der schwarzen präsentiert wird, beginnt Auto-Allocate damit, mehr Kunden auf die silberne Version zu lenken. Umgekehrt wird bei einer leistungsschwachen Option weniger Verkehr zu verzeichnen sein. Damit wird das Problem des manuellen A/B-Tests eliminiert, bei dem man die gewonnene Erfahrung nicht nutzen kann, solange der Test noch läuft.


  • Autor Martin Spaar
    Martin Spaar ist Gründer des PUBLISHER und hat diesen kontinuierlich zum führenden Magazin im Bereich Publishing und Digitaldruck im deutschen Sprachraum ausgebaut. Anfang 2019 hat er die Zeitschrift an das junge Team der Pantara GmbH übergeben. Jedoch bleibt er dem PUBLISHER als Autor weiterhin verbunden und ist über freie Mandate auch sonst aktiv in der Schweizer Publishing-Szene unterwegs.
  • Rubrik Publishing
  • Dossier: Publisher 3-2020
  • Thema Adobe Experience Cloud

Kommentieren

− 2 = 2

*Pflichtfelder

Ihre Persoenlichen Daten werden nicht veroeffentlicht oder weitergegeben.