Nachtleben
Nachts bei minimalem Licht zu fotografieren, ist eine eindrückliche Erfahrung, die mit purer Emotion zu tun hat. Bildreize festzuhalten, die dem normalen Auge verborgen bleiben, sind der grosse Ansporn.
Kein Zweifel: Die digitale Sensortechnik vermag heute genauer als das menschliche Auge zu «sehen». Vor allem nachts, wenn unser Sehsinn mehr Hell-Dunkel-Reize empfängt und Farben an Kraft verlieren, trumpfen die Sensoren mit einer unglaublichen Leistung auf.
Es ist Ende August, mit Gepäck für zwei Tage fahren wir von Urnerboden (Klausenpass) her mit einem Viererbähnli um die Mittagszeit zum Fisetenpass hoch. In einigem Auf und Ab gehts in rund drei Stunden zur Claridenhütte hoch, die auf einem Felsvorsprung ruht. Im Gepäck die Kamera mit zwei Objektiven (10–24 / 18–200 mm) und einem Reisestativ, dazu kommen die Stirnlampe und eine starke Stablampe – rund fünf Kilo, die ich zusätzlich zum restlichen Gepäck hochschleppen muss. In den Bergen heisst die fotografische Währung nicht möglichst gross, sondern möglichst leicht. Jedes zusätzliche Kilo kann über Wanderlust oder -frust entscheiden.
Ich habe im Sinn, in der angekündigten klaren Nacht die Sterne zu fotografieren. Nach dem frühen Nachtessen bleibt ein Rest Zeit, die Umgebung zu erkunden, um für die Nacht gerüstet zu sein. Ich gehe mit Kamera und Stativ rund ums Haus, um mögliche Standorte auszumachen. Hier oben gibts kein Netz und so hilft mir die App PhotoPills nicht wie sonst, um die Lage der Milchstrasse und des Polarsterns zu orten, der genau im Norden liegt.
Ich suche Felsen, auf denen mein Stativ fest genug steht. Als Untergrund sind für die Langzeitbelichtung eine Wiese oder Moosbewuchs denkbar ungeeignet. Ich merke mir diese Felsen gut, um sie auch im Dunkeln mit der Stirnlampe wieder zu finden. Drei Standorte sind genug. Um neun Uhr ist es bereits stockdunkel, ich versuche, im kleinen Zimmer etwas vorzuschlafen. Als mich das Handy um 22.30 Uhr weckt, bläst draussen ein steifer Wind. Ich ziehe alles über, was ich an Warmem dabeihabe und trete in das mondlose Sternenmeer. Milliarden von Sternen sind zu sehen, die Milchstrasse wölbt sich nordöstlich mächtig über das Glarnerland und senkt sich hinter dem Rücken des Tödis. Welch ein erhabener Anblick!
Ich suche meine rekognoszierten Standorte auf und beginne mit dem Shooting. Gestalterisch gesehen sind die Sterne faszinierend, aber erst der Vordergrund macht ein Bild reizvoll. So stelle ich das Stativ mit weit gespreizten Beinen möglichst bodennah auf, denn der Wind zerrt an allem. Ich zweifle, ob verwackelungsfreie Aufnahmen bei einer Belichtungszeit von 15 Sekunden überhaupt möglich sind. Die Kameraeinstellungen habe ich längst in der Wärme vorgenommen. Es sind Einstellungen, die der Sternefotograf Markus Eichenberger (www.ChasingStars.club) in seinen Workshops propagiert. Die Grundeinstellungen sind in der Tabelle unten festgehalten.
Die Belichtungszeit liegt bei 10, 15 Sekunden, je nach Lichtstärke des Objektivs und der Helligkeit des Mondes. Ab 20 Sekunden werden die Punkte der Sterne nicht mehr als Punkte, sondern als wahrnehmbare Strichlein abgebildet, denn das Firmament wandert um den Polarstern. Ich mache verschiedene Probeaufnahmen. In der maximalen Vergrösserung auf dem Display prüfe ich, ob die Schärfe und die Belichtung stimmen. Die Sterne sollten möglichst natürlich belichtet sein. Wenn die Aufnahme zu dunkel erscheint, muss ich sie in Lightroom zu stark aufhellen, sodass das Bildrauschen unnötig betont wird. Ich korrigiere allenfalls wenig mit der ISO-Zahl oder der Verschlusszeit. In der Postverarbeitung spielen Vorlieben eine grosse Rolle. Später schaffe ich Eindrücke, die es so in Wirklichkeit nie gegeben hat.
Das Stativ beschwere ich mit Felsbrocken, um die Verwackelung durch den Wind zu minimieren. Um halb zwölf bin ich fertig und krieche für zwei Stunden in den Schlafsack … bis mich um zwei erneut das Handy ruft – für eine zweite Session.
Jetzt sind die Hüttenlichter verschwunden – ich bin völlig allein unter dem Himmelszelt. Glücksgefühle stellen sich ein, während meine Kamera eine Stunde lang still vor sich hin arbeitet. Die unendliche Tiefe des Universums kann man nur live bestaunen, meine Fotos sind nichts als eine blasse Simulation!
Ralf Turtschi ist Inhaber der R. Turtschi AG, visuelle Kommunikation, 8800 Thalwil. Der Autor ist als Journalist und Fotorepor- ter für die Gewerbezeitung, unteres linkes Zürichseeufer und Sihltal, unterwegs. Er ist als Dozent beim zB. Zentrum Bildung, Baden, tätig, wo er im Diplomlehrgang Fotografie der Masterclass Fotografie und an der Höheren Fachschule für Fotografie unterrichtet. Kontakt: agenturtschi.ch, turtschi@ agenturtschi.ch, Telefon +41 43 388 50 00.
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Autor
Ralf Turtschi
Ralf Turtschi ist Inhaber der R. Turtschi AG. Der Autor ist als Journalist und Fotoreporter für die Gewerbezeitung, unteres linkes Zürichseeufer und Sihltal, unterwegs. Er ist als Dozent beim zB. Zentrum Bildung, Baden,
tätig, wo er im Diplomlehrgang Fotografie der Masterclass Fotografie und an der Höheren Fachschule für Fotografie unterrichtet. - Rubrik Fotografie
- Dossier: Publisher 6-2020
- Thema Fotografie, Nachtleben
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