Diversität als Treiber

Die Natur lehrt es uns schon lange: Millionen von Arten leben in einer wundersamen Symbiose, alles hängt irgendwie zusammen. Selbst Katast- rophen vermögen das Gleichgewicht kaum zu stören. Artenvielfalt ist das Zauberwort, es geht um die Vielfalt. Biodiversität ist die Voraussetzung für das Überleben vieler Arten. Wenn ein Pflänzchen oder ein Tierchen ausstirbt, können ganze Nahrungs- ketten zugrunde gehen. Eine Studie aus Deutschland hat über einen Beobachtungszeitraum von 2008 bis 2017 einen Insektenschwund von fast einem Drittel festgestellt (SRG, 31.10.20). Das Aussterben hat seine Ursachen: Monokultur und Fettwiesen sind ganz offensichtlich nicht das, was Insekten zum Überleben brauchen. Nun müssen wir Konsumentinnen und Konsumenten entscheiden, ob wir die Biodiversität (Gesundheit) höher gewichten oder ob wir der Wirtschaftlichkeit (günstige Preise) den Vorzug geben. Die Güterabwägung verläuft ganz ähnlich wie bei der Corona-Pandemie. Diversität einer anderen Art findet sich in der Meinungsbildung. Ich gehe einmal davon aus, dass die Form der Demokratie bis heute den besten Ansatz darstellt, um Gesellschaften nachhaltig zu entwickeln. Demokratie heisst stufengerechte Mitsprache, (inter-)national, regional, lokal, im Verein, in der Familie, im Unternehmen. In unsicheren Zeiten rufen Menschen jeweils nach starker Führung und einfachen Lösungen. Die Zeit der Blender, der Schwätzer und der Verschwörungstheoretiker. Diversität dagegen ist die austarierte Form des Politisierens. Wenn eine politische Partei die Sicht ihres Meinungsführers als einzige toleriert, ist sie dem Untergang geweiht. Ein Zweiparteiensystem, wie in den USA, kann auf Dauer kaum überleben, es führt in die politische Blockade. Die Partei mit der Einheitsmeinung in grundsätzlichen Fragen wird sich auf Dauer nicht erneuern können, sie wird zwangsläufig untergehen. Der Modus «Wir gegen die anderen» lebt dieser Tage in verschiedenen Kulturen auf. Wie kann eine einzelne Parteidoktrin die Basis für das Wohl einer ganzen Gesellschaft sein? Das ist absurd. Es fehlt in der «geistigen Nahrungskette» die rebellische Reflexion. In einer positiven Diskussionskultur sollten sich die guten Argumente zum Gesamtwohl der Gesellschaft durchsetzen. Echte Demokratie braucht Pluralismus als Schmiermittel.
Das Internet spielt heute in der Meinungsbildung und Mobilisation von Wählern eine enorm wichtige Rolle. Dass sich jeder im Internet frei äussern kann, ist eigentlich ein Segen. Dass das Internet auch Hasstiraden und Blödsinn jeglicher Herkunft eine Plattform bietet, ist weniger schön. Wer an Verschwörungstheorien und an das Modell «Wir gegen die anderen» glaubt, ist eine Gefahr für den gesunden Menschenverstand. Nun kann man beruhigt denken, dass eine Demokratie wie die Schweiz mit ihren Prozessen ein gewisses Mass an Quatsch ertragen kann. Wie schnell sich Gedankenlosigkeit, Sorglosigkeit, Verharmlosung und Verleugnung von wissenschaftlichen Fakten zu gewaltigen Problemen auswachsen, sehen wir an Szenarien, die wir gerade erleben. Die Frage stellt sich nun, ob die Freiheit der Meinungsäusserung im Internet zur positiven Entwicklung einer Gesellschaft beiträgt oder ob eine strenge Kontrolle, Selektion oder Regulation des Meinungsbildungsprozesses – durch wen auch immer vorgenommen – nachhaltiger ist. Es verhält sich wahrscheinlich ähnlich wie bei der Corona-Krise. Man sollte nicht einfach alles schleifen lassen. Wenn der freie Meinungsmarkt aus dem Ruder läuft und sich gegen die Demokratie entwickelt, brauchen wir Mechanismen und Algorithmen, die korrigieren. Mir persönlich ist es wohler dabei, wenn wir als Gesellschaft die Spiel- und Zensurregeln aufstellen und nicht die Tech-Giganten der Plattformwirtschaft.

  • Autor Ralf Turtschi
    Ralf Turtschi ist Inhaber der R. Turtschi AG. Der Autor ist als Journalist und Fotoreporter für die Gewerbezeitung, unteres linkes Zürichseeufer und Sihltal, unterwegs. Er ist als Dozent beim zB. Zentrum Bildung, Baden,
    tätig, wo er im Diplomlehrgang Fotografie der Masterclass Fotografie und an der Höheren Fachschule für Fotografie unterrichtet.
  • Rubrik Kolumne
  • Dossier: Publisher 6-2020
  • Thema Ultimo

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