Krisenkommunikation in Zeiten der Pandemie

Ein interkultureller Blick auf die Covid-19-Kampagnen in der Schweiz, Mexiko, Indien, Vietnam und Brasilien

Die Covid-19-Pandemie stellt seit über einem Jahr Regierungen, Institutionen und viele Menschen vor grosse Herausforderungen. Krisenzeiten bieten Chancen und Risiken. Das gilt nicht zuletzt für die Krisenkommunikation, denn wenn sie erfolgreich gemanagt wird, können herausfordernde Situationen verhindert, eingegrenzt bzw. bewältigt werden. Am Beginn der Corona-Krise standen deshalb weltweit die Gesundheitsbehörden vor einer zentralen Frage: Wie informieren wir über die Gefahren des Virus und die entsprechenden Verhaltensweisen, damit alle Bevölkerungsschichten erreicht werden?

Schweiz
Das Bundesamt für Gesundheit erarbeitete im Februar 2020 unter extremem Zeitdruck gemeinsam mit der Zürcher Agentur Rod Kommunikation eine Gesundheitskampagne von grosser Reichweite. Unter dem Titel «So schützen wir uns» erhalten die Schweizer seitdem in Print- und Onlinemedien aktuelle Hinweise zu den Präventions- und Schutzmassnahmen des Bundes. Neben einem markanten Farbcode, der sich der jeweiligen Bedrohungslage anpasst, visualisieren einfache Piktogramme die adäquate Verhaltensweise. Ein typisches Merkmal für Schweizer Kampagnen ist die offizielle Kommunikation in den vier Landessprachen, die in diesem Fall noch um Englisch ergänzt wurde. Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch sind nicht nur als Amtssprachen in der Bundesverfassung der Eidgenossenschaft festgeschrieben, sie spiegeln auch das kulturelle Selbstverständnis einer ganzen Nation.

Aber wie haben andere Länder mit ähnlichen Corona-Kampagnen auf die individuellen Besonderheiten ihrer Kultur reagiert? Wie haben sie das so überlebenswichtige Thema einer meist diversen Bevölkerung kommuniziert? Oft gilt es, nicht nur die Grenzen der Mehrsprachigkeit zu überwinden, auch Analphabetismus, Fragen der Religion, soziale Hierarchien oder politische Kontroversen können Einfluss auf den Erfolg von Krisenkommunikation haben. Die folgenden Beispiele geben einen kleinen Einblick in die Vielfalt der weltweiten Gesundheitskampagnen und ihre kulturellen Besonderheiten.

Mexiko
Schon recht früh erkannte die mexikanische Regierung die Gefahr des hochansteckenden Corona-Virus. Als sich 2009 die Schweinegrippe weltweit ausbreitete, ergriff die Regierung strenge Massnahmen wie die Schliessung fast aller Geschäfte und die Quarantänepflicht für infizierte Bürger. Vor allem Mexiko-Stadt ist aufgrund der hohen Bevölkerungszahl und -dichte ein Hochrisikogebiet für Pandemien. Der Mix aus Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur warf eine zentrale Frage auf: Wie kommuniziert man die Gefahren der Pandemie in einem weitgehend informellen und teilweise ungebildeten Umfeld?

Abb. 1: Susana Distancia, © Gesundheitsministerium Mexiko, 2020

Neben den offiziellen Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus entwickelte die mexikanische Regierung den weiblichen Comic-Charakter der Susana Distancia. Eine Superheldin, die mit ausgebreiteten Armen das Mass an sozialer Distanz (1,5 Meter) während des Lockdowns veranschaulicht (Abb. 1). Ihr Name ist ein Wortspiel auf Spanisch, denn «mantengan su sana distancia» bedeutet «Halten Sie eine gesunde Distanz». Dass die Wahl auf eine Superheldin fiel, hat auch kulturelle Gründe. Seit den 30er Jahren ist der Lucha Libre, der professionelle Freistilkampf, eine beliebte Form des Wrestlings in Mexiko. Die Luchadores und Luchadoras treten im Ring mit furchteinflössenden Masken gegeneinander an. Im Moment des Kampfes verkörpern sie Helden, Tiere oder Götter und werden dafür von einer frenetisch jubelnden Fangemeinde gefeiert.

Schon seit vielen Jahren ist das Phänomen der kostümierten Superhelden nicht nur auf den Strassen Mexikos angekommen. Dort setzen sich selbst ernannte und als Superhelden verkleidete Bürger für ihre Mitmenschen ein. Sie regeln den Verkehr, kämpfen gegen Kriminalität oder helfen bedürftigen Menschen. Susana Distancia steht in dieser Tradition. Ihr Comic-Charakter ist ein gutes Beispiel für erfolgreiche Risikokommunikation, die die Bürger quer durch alle Bevölkerungs- und Altersgruppen erreicht. Sie besitzt sogar einen eigenen Twitter-Account mit über 55 Tausend Followern und eine eigene Website, auf der sie nützliche Tipps gibt, um gesund durch die Pandemie zu kommen. Inzwischen hat Susana Verstärkung durch vier weitere Superheldinnen bekommen: Refugio, Prudencia, Esperanza und Aurora verkörpern durch ihre Charaktere und die Farben ihrer Capes die Coronavirus-Risikoampel.

Indien
In einem Land mit mehr als 1,3 Milliarden Einwohnern, 22 offiziellen Sprachen und einer Vielzahl von Religionen ist eine flächendeckende Kommunikation eine grosse Herausforderung. Im März 2020 richtete der indische Premierminister Narendra Modi in einer Fernsehansprache eindringliche Worte an die Bevölkerung, um die Covid-Massnahmen anzukündigen. Mit Hilfe einer Schautafel verdeutlicht er im Video die zentrale Botschaft (Abb. 2): CO-RO-NA. Die drei Silben des Wortes können übertragen als «Koi road par na nikale» gelesen werden: «Niemand soll rauskommen auf die Strasse.»

Abb. 2: Screenshot von Narendra Modi während der Fernsehansprache, März 2020

Der nur wenige Stunden später verhängte dreiwöchige Lockdown kam für die indische Bevölkerung unerwartet und war radikal. Kaum jemand hatte Zeit, sich auf die Ausgangssperre vorzubereiten. Besonders hart traf es die Tagelöhner, die ohne Arbeit wieder zurück in ihre Heimatorte gelangen mussten. Da der öffentliche Verkehr eingestellt war, strandeten Hunderttausende bzw. sie kamen nur unter widrigen Bedingungen zu ihrem Ziel. Hinzu kamen die drakonischen Massnahmen der Polizei, die mit Stockschlägen gegen jeden vorgingen, der sich nicht an die Lockdown-Regeln hielt.

Doch es gab auch unterhaltsame Momente. In einzelnen Städten wurde die indische Polizei kreativ, indem sie sich als «Corona-Cops» (Abb. 3) verkleideten. Dazu verwandelten sie ihre Motorradhelme mit Pappmaché in Virusattrappen mit leuchtend roten Stacheln. So eindrücklich maskiert, klärten sie die Menschen bei Strassenkontrollen über die Gefahren des Virus auf und forderten, sich entsprechend zu verhalten.

Abb. 3: Corona-Cops in Indien (Getty Images)

Vietnam
Wesentlich poppiger war die Vermittlung der Covid-19-Gesundheitsmassnahmen in Vietnam. Dort wurde mit Hilfe eines Animationsfilms und eines eingängigen Karaoke-Songs auf die Gefahren und Schutzmassnahmen hingewiesen. «Ghen Cô Vy» ist ein echter Ohrwurm, der kurze Zeit nach seiner Veröffentlichung viral ging und inzwischen über 75 Millionen Mal auf YouTube geklickt wurde (Abb. 4). Eingebettet sind die Corona-Verhaltensregeln in eine Liebesgeschichte. Bevor das Paar jedoch in inniger Zweisamkeit zusammenfindet, muss es sich zuvor gegen das Covid-Virus zur Wehr setzen. Typisch für einen Karaoke-Song wird Strophe für Strophe der Text eingeblendet. Er erzählt von der Entstehung des Virus, seinen Gefahren und seiner Bekämpfung. Der Refrain gipfelt im fröhlichen Aufruf zum Händewaschen: «Gleichmässig reiben, reiben, reiben!»

Kein Wunder inspirierte ausgerechnet diese Zeile den vietnamesischen TikTok-Star Quang Dang zu einer Dance-Challenge. In einem Land mit einer überdurchschnittlich jungen Bevölkerung sorgten die digital geteilten Dance-Moves für einen überwältigenden Erfolg in den Sozialen Medien.

Abb.4: Videostill «Ghen Cô Vy», Min & Erik, © Gesundheitsministerium Vietnam, 2020

Dass Vietnam als staatliche Kommunikationsmassnahme einen Karaoke-Song wählte, ist kein Zufall. Das gemeinsame Singen hat im Land eine lange Tradition. Noch relativ jung, aber extrem beliebt, ist dabei Karaoke. Seinen Ursprung hat dieses Phänomen in den Karaoke-Bars im Japan der 70er Jahre. Schnell dehnte es sich über weitere Länder Asiens auf die ganze Welt aus. In Vietnam ermöglichte der Song, ganz viele Bevölkerungsschichten zu erreichen – denn Singen vereint die Menschen unabhängig von Alter, Bildung oder Hierarchie.

Und noch etwas fällt an der Covid-19-Kommunikation des Landes auf: Sowohl im Karaoke-Video als auch in anderen Medien setzt die Regierung auf verbale und visuelle Revolutionsrhetorik. So ist zum Beispiel das Info-Plakat des jungen vietnamesischen Grafikdesigners Hiep Le Duc stark vom Stil kommunistischer Propagandaposter inspiriert. Vor aufgehender Sonne halten zwei Mitarbeitende des Gesundheitswesens gemeinsam eine wehende, rote Fahnen in der Hand (Abb. 5). Darüber der Slogan «Sein Land zu lieben, heisst zuhause zu bleiben». Die Erinnerung an die schrecklichen Kriege des 20. Jahrhunderts und der wirtschaftliche Aufstieg Vietnams unter einer sozialistischen Regierung prägen und vereinen des Land bis in die Gegenwart.

Abb. 5: Plakat «Sein Land zu lieben, heisst zuhause zu bleiben!» © Hiep Le Duc 2020

Brasilien
Von Einigkeit kann in Brasilien nicht die Rede sein. Mehrere grosse Städte Brasiliens wandten sich gegen die offizielle Landespolitik, um ihre Bevölkerung vor dem Corona-Virus zu schützen. Sehr eindrücklich ist die Hashtag-Kampagne #FiqueEmCasa (Bleiben Sie zu Hause!) der Stadt São Paulo (Abb. 6). Das Aufklärungsvideo mahnt in eindringlichem Ton: «Folgen sie dem, was die Gesundheitsexperten, die Regierungen Europas und die WHO sagen: Bleiben Sie zu Hause!» Unausgesprochen bleibt zwischen den Zeilen die bittere Wahrheit: Folgt nicht der brasilianische Regierung!

Abb. 6: Videostill #FiqueEmCasa, ­SaoPaolo, 2020

Denn diese tut seit Beginn der Pandemie verhältnismässig wenig, um das Virus zu bekämpfen. Im Gegenteil, Präsident Jair Bolsonaro sabotiert die Anstrengungen der Gouverneure und Bürgermeister. Erst kürzlich rief er seinen Anhängern zu, sich nicht an Lockdowns zu halten. Er fragte: «Warum soll man zu Hause bleiben und heulen?» Und obwohl er selbst an Corona erkrankte, reist er weiterhin ohne Maske durch das Land. Eine landesweite Impfkampagne verzögerte er mutwillig und lehnte Angebote für grosse Impfstofflieferungen ab. Inzwischen liegt Brasilien mit über 277 000 Todesfällen auf dem zweiten Platz gleich hinter den USA mit doppelt so vielen Toten. Das Land ist tief gespalten in Anhänger des Präsidenten und dessen Gegner.

Verantwortung und Solidarität
Der Blick zurück auf ein Jahr Corona-Pandemie ist ernüchternd. Der Wunsch aus den Anfangstagen, diese Herausforderung als Weltgemeinschaft zu bewältigen, scheiterte früh an nationalen, politischen und wirtschaftlichen Interessen. Trotzdem haben sich Kommunikationsstrategen auf der ganzen Welt bemüht, die Bevölkerung aufzuklären und ihnen Wege aus der Krise aufzuzeigen.

Abb. 7: Solidaritätsfahne, Made in China für CHF 6,95, Migros April 2020

Noch heute erinnern vereinzelt Solidaritätsfahnen an Schweizer Balkonen und Fenstern an eines der stärksten Gefühle im ersten Lockdown, nämlich das der Gemeinschaft (Abb. 7). Die Migros verkaufte die Fahnen im vergangenen Frühjahr für CHF 6.95. In den vier Landessprachen formen die Worte WIR, NOUS, NOI, NUS in weisser Schrift auf rotem Grund das Schweizerkreuz. Eingerahmt wird das Motiv von der Aussage «Gemeinsam mit Verantwortung und Solidarität» – ein starkes nationales und mitmenschliches Zeichen. Möge es das Land noch eine Weile durch die Zeiten der Pandemie tragen.

Peter Glassen ist Markenberater und Semiotiker. Er berät und ­begleitet Unternehmen und Organisationen bei der strategischen Entwicklung ihrer Marken. Als Gründer des Schweizer Expertinnen- und Experten-Netzwerks für angewandte Semiotik SEMIOTICS.CH legt er einen Fokus auf kulturelle Codes und Zeichen. Neben seiner Beratertätigkeit ist er Hochschuldozent für Bildtheorie und Referent zu den Themen Markenbildung und Semiotik. semiotics.ch

  • Autor Peter Glassen
    Peter Glassen ist Markenberater und Semiotiker. Er berät und begleitet Unternehmen und Organisationen bei der strategischen Entwicklung ihrer Marken. Als Gründer des Schweizer Expert*innen-Netzwerks für angewandte Semiotik (semiotics.ch) legt er einen Fokus auf kulturelle Codes und Zeichen. Neben seiner Beratertätigkeit ist er Hochschuldozent für Bildtheorie und Referent zu den Themen Markenbildung und Semiotik.
  • Rubrik Design & Praxis
  • Dossier: Publisher 2-2021
  • Thema Kommunikation

Kommentieren

2 + = 5

*Pflichtfelder

Ihre Persoenlichen Daten werden nicht veroeffentlicht oder weitergegeben.