Die grosse Entwertung

Ursache und Nebenwirkungen

Kolumne von
Ralf Turtschi

Das Früher jedes Menschen ist ein individuelles Früher. Mein eigenes berufliches Früher schläft heute in Museen. Bleisatz, Fotosatz, Typografie, Buchdruck. 1987 hat auf meinem Desktop die Ära des heutigen Publishings begonnen, mit einem Macintosh SE, 13-Zoll-Schwarz-Weiss-Monitor und einem 19-Zöller, der 256 Graustufen darstellen konnte. Die Produktion wurde durch die EDV, die elektronische Datenverarbeitung, wie sie damals noch genannt wurde, völlig durcheinandergewirbelt. Heute kann jeder alles. Um eine Broschüre zu produzieren, braucht es nicht einmal mehr eine Marketing-Schnellbleiche.

Die neue Kommunikationstechnologie Internet ermöglichte nicht nur den globalen Handel im heutigen Ausmass, sie vereinnahmte auch alle Gesellschaften, die Beziehungen der Menschen untereinander oder zu ihrem Umfeld. So genial und nützlich das Internet für viele ist, es gibt auch Schattenseiten, deren Auswirkungen nach und nach zum Vorschein kommen.

Da ist einmal die Entwertung der Dinge zu nennen. Im Fotosatz der 80er-Jahre gab es Titelsatzfirmen, die Papierbelichtungen an die Werbeagenturen lieferten, ein Buchstabe kostete einen Franken. Heute gibts für den annähernd gleichen Preis ein Logo und die Briefschaften gratis dazu. Die Entwertung der Dinge ist für den Konsum erfreulich, für die Produzenten ist die globale Konkurrenz oft tödlich. Plattformdienstleistungen sind genauso «gratis» wie Informationen. Man sollte skeptisch sein, gratis bedeutet mit hundertprozentiger Sicherheit, dass jemand anders die Kosten übernimmt. Nur lässt sich nicht mehr so leicht feststellen, wo Kosten entstehen und wer sie bezahlt oder eines Tages bezahlen muss.

Dem Logo ist es egal, ob es von Mongolen, Kasachen oder von Chilenen entworfen, aus Vorlagen zusammengebastelt wurde oder ob letztlich Algorithmen dahinterstecken. Die hiesig ansässige Grafikerin hat im globalen Konkurrenzumfeld preislich keine Chance. Beim Druck ist es ebenso: Bücher werden weltweit irgendwo gelayoutet und gedruckt, zu konkurrenzlosen Preisen. Niemand fragt, unter welchen Umständen produziert wird und was die Auswirkungen aufs hiesige Gewerbe bedeuten. Hauptsache, Freihandel.

Industriell produzierte Nahrungsmittel wurden im Internetzeitalter fürs Haushaltsbudget immer billiger. Dasselbe passierte bei Kleidern, in der Logistik, im Tourismus. IT-basierte Prozesse sind effizient und günstig. Erst die Masse von Gütern ermöglicht es, dass die Transportkosten pro Produktionseinheit vernachlässigbar sind. Auf den ersten Blick für uns Konsumenten ein Segen, die Nebenwirkungen werden spätere Generationen erleben. Günstige Energie und preiswerte Mobilität sind wirtschaftspolitisch gewollt, aber alles andere als nachhaltig.

Der globale Handel mit seinem Wachstumseffekt hat seine Kehrseite. Die Klimaerwärmung. Der Online-Handel mit seiner Päckliflut ist ein CO2-Emittent und Müllproduzent der Sonderklasse. Die Verpackungsindustrie und die Wirtschaftspolitik freuts. Die Zeche zahlt die nächste Generation, weil wir den Internetverlockungen so gerne erliegen. Jede Google-Anfrage, jedes Streaming, jeder Download, jeder Like braucht Strom, der fast nichts kostet, jedoch klimaschädlich produziert wird. Der ungebremste globale Massenkonsum befeuert ganze Wirtschaftszweige, gleichzeitig steht für viele die berufliche Existenz auf dem Spiel. Zum Beispiel fragt sich die Einsteigerin: Warum soll ich noch fotografieren lernen? In zwanzig Jahren wird meine Reise getrackt, und ich erhalte dazu perfekte Fotos und Videos aus Datenbanken von Facebook, Instagram & Co. Inklusive Selfie-Freisteller. Nikon, Canon, ade – Google wirds schon richten, die Nutzungsrechte haben sie schon.

  • Autor Ralf Turtschi
    Ralf Turtschi ist Inhaber der R. Turtschi AG. Der Autor ist als Journalist und Fotoreporter für die Gewerbezeitung, unteres linkes Zürichseeufer und Sihltal, unterwegs. Er ist als Dozent beim zB. Zentrum Bildung, Baden,
    tätig, wo er im Diplomlehrgang Fotografie der Masterclass Fotografie und an der Höheren Fachschule für Fotografie unterrichtet.
  • Rubrik Kolumne
  • Dossier: Publisher 2-2021
  • Thema Ultimo

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