Buchtipp: Auf neuen Pfaden zur Inspiration

In seiner «Anleitung zum Unkreativsein» erklärt Dirk von Gehlen mit einer gehörigen Portion Witz, wie man seine Gedankengänge auf den Kopf stellt und abseits von bekannten Wegen zu neuen Einfällen und differenzierten Perspektiven gelangt. Ausserdem beschreibt der Autor und Journalist in seinem 216-seitigen Buch, welche Chance es birgt, auch einfach mal unkreativ zu sein – und was die Badewanne mit Erleuchtung zu tun hat. Ein Auszug aus der Publikation. 

Geistesblitze entstehen zufällig – lassen sich aber absichtlich verhindern
Um nachhaltig und zuverlässig unglücklich zu bleiben, gibt es in allen Lebensbereichen einen sehr einfachen und unbedingt empfehlenswerten Trick: Überhöhen Sie Ihre Erwartungen! Malen Sie sich in hellsten Farben die Ergebnisse aus, die unerreichbar scheinen. Das klingt dumm, aber wenn Sie es «Streben nach Perfektion» nennen, können Sie mit diesem Tipp sogar Business-Ratgeber schreiben: «Das Beste ist gerade gut genug» ist die populäre Verpackung für eine Erwartungshaltung, die Unzufriedenheit und Unkreativität garantiert. Denn so stellen Sie sicher, dass – falls Sie je ein Geistesblitz treffen sollte – Sie diesen gar nicht bemerken, weil Sie sich für diesen Moment klingende Geigen und jede Menge Glitzerstaub vorgestellt haben.

Verbinden Sie solche möglichst detailreichen Szenarien mit dem Moment der Zielerreichung. Stellen Sie sich so konkret wie nur möglich vor, wie es dereinst sein wird, wenn Sie das Ziel erreicht haben – und Sie sind bestens gewappnet, um stets unzufrieden zu bleiben. Denn wenn nur ein Detail fehlt, wird es nicht das Ziel sein, von dem Sie geträumt haben. Es kann sich dann bestenfalls um eine Vorstufe oder Unterart des wirklichen Ziels handelt, das sie keinesfalls akzeptieren werden.

Besonders hilfreich fürs überzogene Erwartungsmanagement sind hier Details, die ausserhalb Ihres Einflussbereichs liegen: Wenn Sie sich beispielsweise herrlichen Sonnenschein und Tau auf den morgendlichen Blumenwiesen für den Moment der Illumination ausmalen, stellen Sie damit sicher, dass jeder graue Herbstmorgen in einem Büroturm unmöglich der Moment der Illumination werden kann. Das Wetter und weitere externe Faktoren, die von Ihrem Handeln nicht beeinflussbar sind, sollten unbedingt Bestandteil Ihrer Erwartungen sein. Beschäftigen Sie sich ausführlich mit diesen Rahmenbedingungen. Das wirkt geschäftig und ist eine hartnäckige Hilfe gegen die Unplanbarkeit der Kreativität, die aus Zufall und Chaos entsteht.

Seien Sie dafür jederzeit gewappnet, und überlassen Sie nichts dem Zufall. Detailreiche Wünsche, überzogene Erwartungen und lückenlose Planung sind die besten Freunde eines jeden Kreativitätsverhinderers. Je erfahrener Sie in dieser Disziplin werden, umso breiter wird auch Ihr Repertoire an Unterdrückungsmethoden. Äusserst erfolgreich ist hier das Prinzip Druck und Enttäuschung.

Wie schon im Inkubationskapitel angedeutet, müssen Sie «Ihre Kreativen» unter Druck setzen, um hohe Qualität zu produzieren. Phasen der Beschäftigungslosigkeit dulden Sie keinesfalls. Sollten Sie hier Fehlverhalten bemerken, müssen Sie darauf unbedingt mit einem hohen Mass persönlicher Enttäuschung reagieren. Je emotionaler und je persönlicher, desto besser.

«Es geht nicht um die Karten, die man ausgeteilt bekommt. Es geht darum, wie man das spielt, was man auf der Hand hat.»

Randolph Pausch

Wenn die Kreativität eine Reise ist, dann ist die Erleuchtung das Ziel. Fast alle Kreativitätsratgeber sind wie eine Landkarte verfasst, die Wege zu dem als Illumination ­bezeichneten «Heureka»-Moment zeigen. Auch dieses Buch kann so gelesen werden. Deshalb muss ich an dieser Stelle eine deutliche Bitte formulieren, in der die Besonderheit dieser Landkarte steckt – und diese Bitte lautet: Fang an, dich zu verirren!

Verirre dich oder: die Badewanne
Spätestens in der Phase der Erleuchtung solltest du die Fähigkeit entwickeln, die Landkarten wegzuwerfen und dich eigenständig auf den Weg zu machen. «Das kostet am Anfang etwas Überwindung», schreiben Kathrin Passig und Aleks Scholz in ihrem unbedingt empfehlenswerten Buch «Verirren» und vergleichen das Wegwerfen der Landkarte «mit dem Abmontieren von Stützrädern am Fahrrad oder dem ersten Mal im tiefen Wasser ohne Schwimmflügel». Das sei alles nicht ganz einfach, aber sie prognostizieren – und ich schliesse mich dem vollumfänglich an: «Es wird sich am Ende auszahlen.»

Diese Überzeugung habe ich mir übrigens nicht selbst ausgedacht, sie ist in der Beschreibung des namensgebenden Heureka-Moments versteckt. Da wir in der Geschichte von Archimedes aber meist nur auf den Moment der Erkenntnis und den damit verbundenen Ausruf «Ich habe es!» (Heureka) achten, fällt häufig unter den Tisch, dass Archimedes nur zu diesem Ausruf gelangte, weil er die Landkarte wegwarf und sich verirrte. Denn der Moment der Erkenntnis trat beim altgriechischen Mathematiker und Physiker der Geschichte nach nicht in einem Labor oder gar konzentriert an einem Schreibtisch ein, sondern in der Badewanne. Und genau das will ich dir für diese dritte Phase im kreativen Prozess raten: Lass dir Wasser ein, und gehe in die Badewanne.

Archimedes sollte die Frage klären, ob die Krone des Königs aus purem Gold bestand oder durch andere Materialien verändert wurde. Zur Beantwortung dieser Frage durfte er die Krone allerdings nicht zerstören. Wie nur konnte er also die Zusammensetzung der Krone ermitteln? Er liess sich ein Bad ein und beobachtete an sich selbst etwas, was wir heute als archimedisches Prinzip kennen: «Der statische Auftrieb eines Körpers in einem Medium ist genauso gross wie die Gewichtskraft des vom Körper verdrängten Mediums.» Einfacher formuliert: Der badende Archimedes beobachtete, dass das Wasser in seiner Wanne stieg, während er sich hinein setzte, und übertrug diese Beobachtung auf die Krone. Wenn diese tatsächlich aus purem Gold bestand, müsste sie genauso viel Wasser verdrängen wie ein Goldklumpen gleichen Gewichts.

«Heureka! Das war die Lösung.» Archimedes soll der Erzählung nach so begeistert gewesen sein, dass er nackt durch die Strassen der sizilianischen Hafenstadt Syrakus gelaufen sei, wahrscheinlich um seine Erkenntnis direkt auszuprobieren.

Für mich illustriert diese Geschichte vor allem die Bereitschaft, sich vom eigentlichen Problem zu entfernen. Passig und Scholz formulieren dies so: «Den Weg verlassen ist das ultimative Rezept zum Verirren. Haken schlagen, ein, zwei Rechts-Links-Kombinationen in unbekanntes Terrain, Wegweiser ignorieren, und schon fängt man an, heimlich nach dem Stand der Sonne zu sehen – ein klares Zeichen, dass man sich erfolgreich verirrt hat.»

Die Geschichte kreativer Lösungen ist voll von zufälligen Erkenntnissen, die nur eingetreten sind, weil die oder der Kreative bereit war, die Landkarte wegzuwerfen, den Weg zu verlassen und sich zu verirren. Dabei liegt darin natürlich ein Paradox: Es ist logisch so wenig möglich, sich absichtsvoll zu verirren, wie es kaum möglich ist, den Zufall zu planen. Beides steht aber für den besonderen Zauber dessen, was man einen Geistesblitz nennt: Es ist eigentlich nicht möglich, es passiert einfach – wenn wir offen dafür sind.

Der Biochemiker Isaac Asimov hat dies einmal so auf den Punkt gebracht: «Der aufregendste Satz in der Wissenschaft ist nicht ‹Heureka, ich hab’s›, sondern ‹Das ist ja komisch›…» Was er meint: Neue Ideen fallen uns nur auf, wenn wir aufmerksam bleiben und genau hinschauen. Denn vielleicht sind die Ideen schon da, wir müssen uns nur von ihnen finden lassen.

Sehr anschaulich lässt sich dieser Geistesblitz-Moment mit einer Beobachtung aus dem Labor von Alexander Fleming illustrieren. Er hatte «eine Agarplatte mit Staphylokokken beimpft», schreibt Jürgen Schaefer. «Als er nach den Ferien ins Labor zurückkehrte, bemerkte er, dass das Laborschälchen offenbar nicht sauber gewesen war: Auf der Nährplatte hatte sich ein Schimmelpilz ausgebreitet. Doch anstatt das Schälchen entnervt wegzuwerfen, sah er genauer hin und stellte fest, dass sich die Bakterien rund um den Schimmelpilz nicht vermehrt hatten. Offensichtlich war der Pilz – der nur über einen Fehler im Versuchsaufbau hineingeraten war – in der Lage, die Bakterien abzutöten: Fleming hatte das Penicillin entdeckt.»

Zur ganzen Geschichte dieser Entdeckung zählt allerdings auch: Alexander Fleming hat diese Entdeckung selbst gar nicht richtig ausgewertet. Erst zehn Jahre später widmeten sich die beiden Forscher Ernst Boris Chain und Howard Florey den Entdeckungen von Alexander Fleming. 1940 konnten sie die Wirkung von Penicillin in Tierversuchen nachweisen. 1945 wurden alle drei für die Forschungen mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet. 

Anleitung zum ­Unkreativsein
von Dirk von Gehen
Das Buch ist für 29,90 Euro beim ­Rheinwerk Verlag erhältlich.
216 Seiten, 2021, gebunden, in Farbe
Rheinwerk Design,
ISBN 978-3-8362-8024-2
rheinwerk-verlag.de

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