Die «Kunst», das Publikum zu vergraulen
Plakate, Anzeigen und Buchtitel müssen blitzschnell funktionieren. Wer den gesunden Menschenverstand einsetzt, erkennt die Funktionalität.
Was ist eigentlich die Aufgabe von Schrift? Gelesen zu werden! Dieser doch simplen Wahrheit verschliessen sich zuweilen manche Ignoranten, die nichts unversucht lassen, etwas unleserlich zu gestalten.
Zum besseren Verständnis führe ich den Vergleich mit dem Medium Film an. Zum bewegten Bild kommt der Ton, der aus Begleitgeräuschen im Hintergrund, unterlegter Musik und Sprache besteht. Während die Hintergrundpegel nicht «zum Verstehen» gemacht sind, ist die Sprache essenziell, um das Gezeigte zu verstehen. Ein Film, dessen Sprache man akustisch nicht versteht, ist kein Film, sondern eine Lärmpräsentation.
Dasselbe kann über Hintergrundmusik gesagt werden, die von einem Off-Sprecher überlagert wird. Nun gibt es Filme mit guter Sprachqualität, aber immer mehr auch solche, bei denen die «Tonmeister» Musik oder Nebengeräusche betonen, statt sie zu unterdrücken. Hörschwache Menschen sind daher gezwungen, Untertitel einzublenden; wenn keine vorhanden sind, zappen sie weg.
Es gibt Parallelen im visuellen Bereich, wo die Schrift dem Gesprochenen entspricht. Dabei gibts verschiedene Lesearten: lineares Lesen (Buch), selektives Lesen (Magazin/Zeitung), konsultatives Lesen (Lexikon), wissenschaftliches Lesen (Schulungsunterlagen), aktivierendes Lesen (Werbung) und vernetztes Lesen (Surfen im Internet).
Das Gestaltungsziel ist, dass das Lesen funktioniert. Niemandem käme es in den Sinn, die Schrift eines Buches oder einer Zeitung hellgrau zu gestalten, weil seit Jahrhunderten klar ist, dass schwarze Schrift auf weissem Grund am besten leserlich ist – im Internet gleich wie auf Papier.
Weisse Schrift auf hellgrauem Grund in Plakaten funktioniert nun einmal einfach nicht, so schwer ist das ja wohl nicht zu verstehen. Woher kommt diese unglaubliche Absenz von gesundem Menschenverstand beim Gestaltungsvorgang? Ein Plakat muss drei Grundprinzipien erfüllen:
- Plakative Grafik oder Fotografie, mit klarer Figur und klaren Farben.
- Grosse und kurze Headline, die von Weitem gesehen werden kann.
- Absenderlogo so gross und klar, dass es erkannt werden kann.
Wenn das Plakat gesehen wird, soll der Absender und die Botschaft schnell erfasst werden können. Ganze Bildergeschichten, auch wenn sie gut fotografiert wurden, funktionieren zu wenig schnell. Lasche Kontraste der Schriften zum Grund oder Schriften im Bild sind Lesehemmnisse. Auf den Plakaten steht häufig viel zu viel drauf.
Weshalb wird die Frage nicht gestellt: «Funktioniert etwas?» Ist bei Werbetreibenden, Marketingfachleuten oder Produzenten niemand, der dem Unsinn Einhalt gebietet?
Auch in Fotografenkreisen ist man sich wenig bewusst, dass plakatives Fotografieren nichts zu tun hat mit Bildsprache oder dem künstlerischen Schaffen einer gewagten, noch nie gesehenen Inszenierung. Ein dunkles Auto vor einem schattigen Hintergrund ist eben schlechter erkennbar als ein helles Auto. Ein städtisches Ambiente oder die wuselige Natur im Hintergrund sind allenfalls Störfaktoren, die das Produkt nicht hervorheben, sondern verschleiern. Da werden teilweise Geschichten mit detailreichen Darstellungen erzählt, die kein Mensch auf die Schnelle erkennen kann.
Es geht hier nicht um Schönheit eines Plakates, sondern darum, ob es ganz funktioniert, nur halbwegs oder gar nicht. Da die Wirkungsweise von guter und schlechter Plakatwerbung nicht erforscht ist, übt sich ein jeder im Blindflug, ohne den gesunden Menschenverstand zu nutzen.
Angenommen, ein Plakat erreicht wegen solcher Funktionsmängel 1000 Personen. Falls die Mängel behoben würden, könnte das Plakat zweimal mehr Leute erreichen. Frage: Wer würde nicht alles tun, um das Werbegeld doppelt so effizient einzusetzen? Eben. In Screenmedien ist es gang und gäbe, Grundschrift auszugrauen oder den Hintergrund farbig zu gestalten. Gestalterinnen sollten alles daran setzen, die Schrift so zu wählen, dass Brillenträger oder Menschen mit Sehbeeinträchtigung ungehindert Zugang zu der Information erhalten.
Dabei kommt es immer darauf an, wie lang und wie gross der Text ist und in welcher Entfernung er gelesen wird. Gegen eine graue Headline gibts nichts einzuwenden, sofern der Kontrast zum Grund genügend gross ist. Ein grauer Grundtext auf einem grauen Grund ist hingegen ein No-Go, auch wenn grau gerade hip ist.
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Autor
Ralf Turtschi
Ralf Turtschi ist Inhaber der R. Turtschi AG. Der Autor ist als Journalist und Fotoreporter für die Gewerbezeitung, unteres linkes Zürichseeufer und Sihltal, unterwegs. Er ist als Dozent beim zB. Zentrum Bildung, Baden,
tätig, wo er im Diplomlehrgang Fotografie der Masterclass Fotografie und an der Höheren Fachschule für Fotografie unterrichtet. - Rubrik Design & Praxis
- Dossier: Publisher 3-2021
- Thema Plakate
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