Handy: «Ich bin auch ein Pinsel …»

Die analoge und die digitale Welt beginnen gerade zu verschmelzen, Mark Zuckerbergs Metaverse-Visionen deuten jedenfalls in diese Richtung. Die Überführung einer Szene in eine digitale Pixelstruktur ist nichts anderes. So funktionierts.

Mit etwas Fantasie kannst du hier eine Person entdecken.

Keine Angst, ich werde mich jetzt nicht über Augmented Reality, 3D-Brillen und Avatare auslassen. Vielmehr zeige ich dir, was du aus deinem Handy herausholen kannst: abstrahierte Bilder, die das Zeug haben, in einer Kunstgalerie zu hängen und von versierten Kuratoren umschwänzelt zu werden. Fotografie sei doch keine Kunst, das kann doch jeder, monierte kürzlich ein Freund.

Nun ist der Kunstbegriff etwa gleich dehnbar wie die Portemonnaies der Jetsetter, die auch für weiss getünchte Flächenmalerei sechsstellige Beträge hinblättern. Aber um Kunst gehts mir eigentlich gar nicht. Es macht einfach Spass, mit den eigenen Händen etwas zu erschaffen, ganz gleich ob das nun im Sandkasten, im Schnee, im Baumarkt oder mit Staffelei und Pinsel passiert. Dem Kind ist es völlig egal, ob sein Scherenschnitt-Weihnachtsstern künstlerisch wertvoll erscheint oder wie ein zerzaustes Huhn das Fenster ziert. Genau so ist es mir mit meinem Handy ergangen.

Da war ich im September mit meinem Fotoclub Baar-Inwil ein Weekend lang unterwegs, bei dem unter anderem eine Besichtigung der Kraftwerke Handegg im Haslital vorgesehen war. Während die anderen schwer mit Kameras und Stativen bewaffnet die Tunnels, Stollen und Industriehallen entlangzottelten und der eloquenten Führerin via Headset zuhörten, verfolgte ich eine ganz andere Strategie. Ich überlegte mir im Vorfeld, was es denn in der neonerhellten Dunkelheit so zu fotografieren gäbe? Nichts, was dringend auf meiner fotografischen Wunschliste stehen würde.

Im Gegenteil: In den düsteren Tunneln muss die ISO-Zahl derart hochgeschraubt werden, dass die Bilder zu rauschenden Festen werden. Ansonsten ist die Belichtungszeit so lang, dass die kleinste Bewegung unscharf abgebildet wird. Die Farbtemperatur ändert dauernd, weil man beim «Lichtkonzept» nicht an die Fotografen und die Farbtemperatur gedacht hat. Weiter handelt es sich ja um eine Betriebsbesichtigung, bei der sich die Gruppe permanent bewegen muss. Ich habe also auch überhaupt keine Zeit, eine Einstellung vorzunehmen oder verschiedene Standorte auszuloten. Die Gruppe fasst erst einmal gelbe Warnwesten mit reflektierenden Streifen. Ja, richtig, diese Westen, die Verkehrskadetten auf der Kreuzung tragen und die jedes Licht restlos reflektieren, also auch Blitzlicht. Hast du schon mal solche Dinger bei Nacht fotografiert? Geht gar nicht. Was mach ich bloss?

Ganz einfach, ich lasse alles zurück, was mich ans Fotografieren erinnert. Die Kamera mit all ihren Einstellrädchen für Blende, Verschlusszeit, ISO-Wert und Plus-Minus-Korrektur, Weissabgleich, Autofokus-Variante, Messfelder und und und. Das Zweikilostativ mit Dreiweg-360-Grad-Drehkopf – bleibt zu Hause. Dabei sind mein Kopf (ganz leicht, ganz leer), mein Handy (iPhone 11 Plus) und die Freizeitjacke.

Drei Fotografen in gelben Westen, die in der Kristallgrotte des Kraftwerks eine runde Vitrine mit Exponaten bestaunen.

Wie ich im letzten PUBLISHER ausführte, leistet die App Camera+ 2 gute Dienste, wenn es um Langzeitbelichtungen geht. Ich stelle in der App auf «Langsamer Verschluss» und kann jetzt die Belichtungszeit von 2 bis 30 Sekunden einstellen. Ich habe vor, nur verwischte Aufnahmen zu machen. Ich bewege mich wie ein Derwisch zwischen meinen Kolleginnen und Kollegen, den Daumen immer wieder auf dem Auslöser. Nach ein paar Aufnahmen kontrolliere ich auf dem Screen, was drauf ist. Bei zwei und drei Sekunden Belichtungszeit sind die Effekte am besten sichtbar. Auf der Anzeige «Helligkeit» gleich neben der Belichtungszeit schiebe ich die Skala einfach solange nach rechts, bis das Sucherbild erscheint. Rechts aussen auf der Skala ist total überbelichtet, links würde das Foto total unterbelichtet.

Nun schwebe ich also zwischen meinen Kolleginnen hindurch und und fange das Licht etwa so ein wie ich mir Schmetterlinge fangen vorstelle. Mit meiner sonst üblichen Herangehensweise hat das überhaupt nichts mehr zu tun. Sonst bin ich eher strukturiert und geplant unterwegs. Ich versuche, eine klare Vorstellung vom Foto zu entwickeln, tätige die notwendigen Einstellungen, fokussiere und drücke ab. Hier komme ich mir vor wie im Senioren-Anfängerkurs Rhythmische Gymnastik. Auch wenn vielleicht nur vage etwas auf dem Screen hängen bleibt, die potenten Stärken des Entwicklungstools der App ­Camera+ 2 schälen mit zwei, drei Klicks das Ei aus der Schale. Unglaublich, was da zum Vorschein kommt.

Das Vage und nur Angedeutete regt die Fantasie an, das Bild zu erkennen und zu deuten. ­Bilderrätsel!

Und – ich muss es nochmals betonen – alles hat nichts mit Fotografie im herkömmlichen Sinn zu tun. Es gibt dort bestimmte Gralshüter wie die Schärfe, das ist hier kein Thema. Oder Schärfentiefe: kein Thema. Rauschen: kein Thema. Farbstich: kein Thema, Weissabgleich: egal. Tonwertabrisse: sehen toll aus.

Ich lasse alle Konventionen los und geniesse die totale Freiheit. Ich bin sicher: Niemand wird meine Ergebnisse in Zweifel ziehen, daran herummäkeln, die Perspektive sei nicht begradigt, die Schärfe liege am falschen Ort oder die Drittelsregel sei nicht berücksichtigt. Ha, ha. Es ist diese Leichtigkeit, die mich treibt, das Unfertige, das Ungeplante, das Zufallsergebnis, das Nicht-Wiederholbare. Die Einmaligkeit war für mich als Normalfotograf schon immer fesselnd. Das Licht-Schatten-Spiel von Sonne und Wolken ändert eine Szenerie im Minutentakt. Dann, gerade zur richtigen Zeit den einzigen Moment festzuhalten, das hat etwas Magisches.

Nun wirble ich also durch die gelbe Meute, die sich natürlich auch bewegt. Die Bewegung des Motivs und die Bewegung der Kamera können im Experiment erfahren werden. Je ruhiger Motiv und Handy, desto schärfer und weniger abstrakt. Ich probiere mit dem Teil verschiedene Bewegungen aus, ich drehe es, schwenke es oder ziehe es während der langen Aufnahmedauer von zwei, drei Sekunden mit.

Das Lichtmalen basiert natürlich ebenfalls auf Lichtquellen. Punktlicht, also zum Beispiel Spotlichter oder auch Neonröhren bilden einen hohen Kontrast zum dunklen Hintergrund. Beim Lichtmalen bilden sich daraus fantastische weisse Fäden oder Lichtspuren, manchmal wird sogar die Flimmerfrequenz sichtbar.

Nach einer gewissen Erfahrung und vielen Erfolgserlebnissen, wirst du auch in Bahnhöfen, im Zirkus, auf der Party oder abends auf der Strasse die Lichtspuren der Autos einfangen können. Es wird immer neu, immer anders und immer überraschend bleiben. Ich fotografiere auf diese Art und Weise heute auch Bäume, Blumen, Häuser oder Menschen.

Was siehst du? Zwei Figuren, die hintere trägt Brille, vorn ein Stativ …
In der Schwarz-Weiss-Umsetzung ist es sehr viel schwieriger, überhaupt etwas zu entdecken.

Bilddeutung
Mich fasziniert, wie Bilder das Hirn stimulieren, wie Betrachterinnen ganz automatisch etwas aus Bildern herauslesen. Es passiert ganz intuitiv und nicht alle erkennen das Gleiche. Unser Sehsinn versucht, die eintreffenden Formen- und Farbensignale mit Bekanntem im Hirn abzugleichen. Wenn nur die Spur eines menschlichen Körpers oder Antlitzes zu erahnen ist, meldet das Hirn: Erkannt! Mensch! Gesicht!

Fotografische «Spitzfindigkeiten» wie originaltreue Wiedergabe oder Neutralgrau sind dagegen richtig langweilige Gesellen. Je grösser der Abstraktionsgrad, desto unklarer ist das Bild. Bis hin zu einem fantastischen und körperlosen Gekleckse.

Die Entwicklung des Fotos verstärkt die Farben und den Kontrast nach Belieben.

Bildbearbeitung
Jedes Handy besitzt eine Bearbeitungsfunktion, die den zweiten Part der künstlerischen Reise ausmacht. Meist sind die gemalten Szenen auf dem Handy kontrastlos, flau und farblos. Aber keine Sorge, unter «Bearbeiten» im Handy gibt es starke Entwicklungsmöglichkeiten, die alle Parameter bis zum Abwinken verstärken können. Wer die Sättigung ganz rausnimmt, erhält ein Schwarz-Weiss-Gemälde der besonderen Art. Du siehst an diesen Beispielen, was Farbe für das Hirn bedeutet, wie sie zur Dekodierung des Inhaltes beiträgt.

Gegen eine Bearbeitung auf dem Handy spricht überhaupt nichts. Du kannst natürlich auch die Bearbeitungsfunktionen auf dem Desktop benützen oder sie kombinieren. Es gibt keine Vorschriften oder Regeln, die beim Entwickeln zu befolgen sind. Gut ist, was gefällt. Beachte dabei das Datenformat. HEIC (beim iPhone) ist für eine Platzierung in einem Dienstleistungsportal für Wandbilder nicht geeignet, dazu musst du das Format in ein JPG umwandeln.

Verschiedene Figuren, eine Brille, die den Kopf andeutet, links ein Stativ …

Zum Wandbild
Heutige Handys haben eine Auflösung von etwa 12 Megapixel. Je nach Seitenverhältnissen sind dies vereinfacht 4000 × 3000 Pixel, also 12 Millionen Pixel. Für die Vergrösserung von Wandbildern kannst du die Anzahl Pixel einer Seite durch 60 dividieren. Dies ergibt dann die Druckgrösse in Zentimeter. 4000 : 60 = 66 cm. 3000 : 60 = 50 cm. Weil diese Motive nicht von der Schärfe geprägt sind, kannst du sie ohne Probleme als Wandbilder bis zu einer Länge von 100 cm fertigen lassen. Ich denke, dass sogar noch grössere Formate drinliegen. Vielleicht solltest du beim Dienstleister ein Stückchen in der richtigen Skalierung Probe drucken. Es gibt sonst immer noch die Möglichkeit, die Software Topaz Gigapixel AI einzusetzen und das Bild hochzurechnen.

In Schwarz-Weiss ist der künstlerische Effekt fast noch eindrücklicher.

Signatur
Wenn du deine Bilder mit deiner Unterschrift signieren möchtest, kannst du dies in Photoshop erledigen: Unterschrift mit Filzer auf ein weisses Papier schreiben, fotografieren und in Photoshop freistellen.

Sieh dich mal auf www.photologo.co um. Dort kannst du deine eigene Signatur in verschiedenen Stilrichtungen designen lassen, so wie das schon viele grosse Fotokünstler getan haben.

Ralf Turtschi ist Inhaber der ­R. Turtschi AG, ­visuelle Kommunikation, 8800 Thalwil. Der ­­Autor zahlreicher Fachbücher und Publikationen ist als Fotograf, Journalist und Designer unterwegs. Er ist als ­Dozent beim zB. Zen­trum Bildung in Baden tätig, wo er im Diplomlehrgang Fotografie der Masterclass Fotografie und an der Höheren Fachschule für Fotografie unterrichtet. Kontakt: agenturtschi.ch, turtschi@agenturtschi.ch, Telefon +41 43 388 50 00.

  • Autor Ralf Turtschi
    Ralf Turtschi ist Inhaber der R. Turtschi AG. Der Autor ist als Journalist und Fotoreporter für die Gewerbezeitung, unteres linkes Zürichseeufer und Sihltal, unterwegs. Er ist als Dozent beim zB. Zentrum Bildung, Baden,
    tätig, wo er im Diplomlehrgang Fotografie der Masterclass Fotografie und an der Höheren Fachschule für Fotografie unterrichtet.
  • Rubrik Fotografie
  • Dossier: Publisher 5/6-2021
  • Thema Fotografie

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