Biometrische Identifizierung im 19. Jahrhundert

Alphonse Bertillon ist vielleicht einigen als Vater der gerichtlichen Fotografie bekannt. Sein Name steht aber auch für eine anthropometrische Messmethode, die als Bertillonage bekannt ist. Mit ihm vollzog sich in der polizeilichen Wahrnehmung von Kriminellen eine Verschiebung des Blickwinkels. Doch wie konnte die Fotografie genau als Hilfsmittel für die «Verbrecherjagd» genutzt werden?

Als 1832 in Frankreich gesetzlich verboten wurde, Kriminelle physisch zu brandmarken, standen die Gerichte vor dem Problem, Wiederholungstäter zu identifizieren. So war man Ende des 19. Jahrhunderts auf der Suche nach einer Methode, mit der Menschen mittels äusserer Merkmale wiedererkannt werden konnten. Dafür entwickelte der französische Kriminalist und Anthropologe, Alphonse Bertillon, ein frühes biometrisches Erkennungsverfahren, das sich u.a. auf die individuelle Ausprägung der Ohrmuschel stützt. Denn «es ist beinahe unmöglich, zwei in allen ihren Teilen gleiche Ohren zu finden […]», so Bertillon. Die Methode wurde jedoch nach nur kurzer Zeit aufgrund der Ungenauigkeit und des hohen Aufwands von der in etwa parallel aufgekommenen Daktyloskopie (Fingerabdruckverfahren) weitgehend abgelöst. Der englische Naturforscher und Entwickler der Daktyloskopie, Francis Galton, sah in den Papillarlinien der Fingerhaut dasselbe, was Bertillon für die Ausprägung der äusseren Ohrmuschel feststellte, nämlich einen unikaten Ausweis für die Unverwechselbarkeit eines Individuums.


So funktioniert die Bertillonage
Die Bertillonage bestand aus mehreren Arbeitsschritten: Neben dem «portrait parlé» (Verfahren zur Personen- und Gesichtsbeschreibung), der standardisierten Vermessung bestimmter Körpermasse (wie z.B. Körperlänge, Armspannweite, die Sitzhöhe und Ohrlänge) und der Umsetzung der erhaltenen Messwerte in ein vergleichbares Raster kam auch die Fotografie zum Einsatz. Dafür konstruierte Bertillon eine spezielle Apparatur mit einem Drehsessel, sodass die inhaftierten Personen, ohne ihre Stellung zu wechseln, sowohl von vorne als auch im Profil mit freiem Ohr aufgenommen werden konnten. Weil die Profilaufnahme immer von rechts erfolgte, wusste die Polizei, von welcher Seite sie sich den Verdächtigen zu nähern hatte, um Gesicht und Fotografie vergleichen zu können. Die Aufnahmen wurden schliesslich auf Karteikarten geklebt und mit den anderen erhobenen Informationen ergänzt.

Abb. 1: Bertillons Apparat,  bit.ly/2JVkURJ
Abb. 2: Anleitung zur Beschreibung eines Ohrläppchens, bit.ly/2VPrATS


Resonanz des Verfahrens
Das Verfahren basiert auf der Annahme, dass Körpermasse nach dem 20. Lebensjahr im Wesentlichen unverändert bleiben. Mit steigender Zahl per Bertillonage beschriebener Individuen sollte eine Person zweifelsfrei erkannt und das Risiko einer Verwechslung minimiert werden. Bis 1905 konnte die Pariser Polizei mittels dieser Methode tatsächlich 12 614 rückfällige Straftäter identifizieren. Insgesamt aber erwies sich die Bertillonage als viel zu aufwendig, da sie sich im Gegensatz zur Daktyloskopie nicht nur auf ein einziges unverwechselbares Körperkennzeichen stützte.

Abb. 3: Das Gedächtnisbild, bit.ly/2K2g8BF

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